Selbstfindungsreise oder Selbst-Verlierungsreise? 

Warum "Selbstfindung" eine falsche Erwartung ist

Heute will ich über ein sehr spießiges Wort schreiben. Ein Wort, bei dem sich mir als zwanghafter Individualistin die Armhaare aufstellen vor Angst, ich könnte am Ende nicht originell genug sein. Dieses Wort ist: Selbstfindungsreise. 

Selbstfindungsreisen: Das machen Abiturienten, die sechs Monate durch Australien „traveln“, dort ihr wahres Ich erkennen und dann zum Studium zurück nach Deutschland kommen. Oder Spirituelle in der Midlife-Crisis, die den Jakobsweg laufen und dabei (beinah) den Sinn des Lebens finden. Ich selbst bin natürlich völlig anders, habe etwas absolut Außergewöhnliches gemacht und deshalb ein anderes Wort benutzt: Selbstverlierungsreise. 

In Wahrheit ist beides passiert.

Was will jemand finden, der sich selbst finden möchte? 

Vielleicht eine Heimat. Vielleicht eine Aufgabe. Vielleicht auch nur den Mut, der eigenen Sehnsucht zu folgen. Oder ein paar Geschichten, um etwas Außergewöhnliches zu erzählen zu haben. Wer reist, hat sehr viel zu erzählen. Wer reist, hat es aber auch viel leichter, nichts zu erzählen. Wasserfälle hier, Strände dort, die besten Autostopp-Geschichten: Den Abend bringe ich schon rum, ohne dass irgendwer irgendwas über mich erfährt. Der Smalltalk-Stoff ist quasi unerschöpflich. 

Wenn ich ganz ehrlich bin, dann will und wollte ich auch immer etwas finden. Wahrscheinlich genau dasselbe. Erst gestern saß ich mit Tobias auf unserer marokkanischen Dachterrasse und habe mir die Fotos vom letzten Jahr angeschaut. Wie wir in Berlin mitten im Winter in einem Camper an der Spree gewohnt haben. Wie wir mit dem Auto in zwei Tagen von Deutschland bis nach Albanien gefahren sind. Kurvige Küstenstraßen, leere Strände, Hühner und Katzen, Osterfeuer mit Autoreifen, einsame Bergpfade, Renovierungsarbeiten, Straßenmusiker, alte Männer, die Bierdosen auf dem Bauch balancieren können, nächtliches Lauern auf Calamari am Strand, Rom am frühen Morgen, Marrakesch bei Nacht. „Und du hast dich beschwert, dass du unser Leben langweilig findest!“, hat Tobias gesagt. 

Nachher bin ich eine Runde um den Block gelaufen. Die Sonne hing schon tief über den Hügelkämmen und schräge, goldene Strahlen berührten über das Tal hinweg den weißen Turm der Moschee. Ich habe gedacht: Ich bin schon ein bisschen neurotisch. 

Die Sache mit der One-Sixth-Life-Crisis

Ich würde nicht so weit gehen zu sagen, dass ich die Orte immer wieder wechsle, um mich selber zu finden. Aber bestimmt auch, um mich selber vor mir besser rechtfertigen zu können. Ich kann mich noch erinnern, wie ich mit vierzehn bei meinem Konditoreipraktikum das hundertachtzigste Osterlamm-Förmchen säuberte und mir dachte: Jetzt bist du schon vierzehn und hast noch überhaupt nichts erreicht. Vergiss mal Midlife- und Quarterlife-Crisis, Menschen wie ich haben eine One-Sixth-Life-Crisis. 

Egal, wie sehr ich mich darüber lustig mache, dieses Gefühl der Bedrängnis bleibt. Ich habe früh Entscheidungen getroffen, die anderen mutig oder leichtsinnig erscheinen, aber die Wahrheit ist: Mehr als vor möglichen Konsequenzen habe ich meistens Angst vor der Konsequenzlosigkeit. 

Die Sehnsucht nach Fremdheit

Wenn ich mich selbst verlieren wollte, dann vor allem dieses Gefühl der Bedrängnis, das Gefühl, in den Maßstäben meiner Umgebung eingeschlossen zu sein. Eine meiner frühesten Fantasien ist folgende: Ich nehme eines Tages den Zug und fahre weit weg, vielleicht nach Süditalien, vielleicht nach Marokko. Ich habe mir vorgestellt, nach Essaouira zu fahren, jetzt, wo ich da war, hat es mir gar nicht so sehr gefallen. Dann wohne ich in einer Stadt, in der mich niemand kennt und in der ich die Sprache nicht spreche. Dann bin ich ganz allein, sitze in einem Café und beobachte die Anderen, ohne zu sprechen. 

Im Grunde war es eine ähnliche Vorstellung, mit der ich Anfang 2020 aufgebrochen bin. Der Wunsch nach Entfremdung. Entfremdung von den Wertesystemen, die ich gelernt habe, Entfremdung von den sozialen Kontakten und Verhaltensweisen, die mir einen zu engen Entwicklungsrahmen vorzugeben schienen. Entfremdung – Ungebundenheit – Verantwortungslosigkeit – Freiheit. 

Ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist, mich selbst zu verlieren. 

Ich weiß auch nicht, ob ich mich aus Versehen nicht doch gefunden habe. 

Beide Erwartungen sind, glaube ich, falsch. 

Und am Ende bist du irgend so ein Mix

Das Ergebnis meiner Reisen, jetzt, nach drei Jahren, sieht eher so aus: Ich laufe über die Outa Hammam, den großen Platz im Zentrum von Chefchaouen. Ein neuer Ausrufer vor einem der Touristenrestaurants, der mich noch nicht kennt, spricht mich an: „Hey, my friend! Woher kommst du?“ 

Die einfachste Antwort: Deutschland. 

Die korrekteste Antwort: Europa. Aber die wird nicht akzeptiert werden, eine genaue Einordnung ist gefragt. Das Vage macht die Leute selbst dann verrückt, wenn die Antwort sie eigentlich nicht interessiert. 

„Deutschland“ zu sagen fühlt sich nicht mehr ganz korrekt an. Zwar komme ich mir sehr deutsch vor, solange ich mich im Ausland befinde. Aber sobald ich dann zurückkomme, fühle ich mich so fremd wie überall sonst. Wenn ich ankomme, sitze ich meistens in einem Café an irgendeinem Bahnhof, höre endlos fasziniert und sehr befremdet den Gesprächen zu und warte darauf, dass ich aufhöre, mich zu wundern. Aber das passiert nicht mehr. 

Die Art, wie ich mich verhalte, ist geprägt von den verschiedenen Kulturen, an die ich mich halb bewusst, halb unbewusst immer wieder angepasst habe. Ich freue mich schon darauf, mit meinem blau-goldenen marokkanischen Kaftan in Deutschland Zug zu fahren. Das wird sicher interessant. 

Wenn ich mich selbst finde, was bin ich dann vorher gewesen?

Von daher habe ich bestimmt irgendetwas gefunden. Und verloren auch: Ganz besonders sehr viele Gewissheiten. Und immer wieder gibt es Momente, in denen Teile dieses Mosaiks sich plötzlich zusammenfügen und einen neuen Sinn ergeben. Dann werde ich sehr euphorisch. Ich bin aufgebrochen mit der Sehnsucht nach Ungebundenheit, Freiheit, Fremdheit. Stattdessen wandere ich ständig aus Versehen in Länder aus, durch die ich eigentlich nur hindurchreisen wollte – so wie jetzt gerade in Marokko, wo Tobi und ich unser nächstes Hausprojekt gestartet haben. 

Die Momente der absoluten Fremdheit, die ich hatte, haben sich wundervoll angefühlt. Eine beruhigende Unsicherheit. Aber ein ganzes Leben in Fremdheit, das ist vielleicht doch sehr öde. Letzten Endes ist es ganz simpel: Erst in der Verbindung mit anderen erfahre ich ein Gefühl der Sinnhaftigkeit.  Und es waren am Schluss doch immer mehr die Verbindungen als die Entfremdungen, die mich geformt haben.

Trotzdem würde ich nicht behaupten, dass ich mich selbst gefunden habe oder je finden werde. 

Denn wenn ich mich selbst finde, was bin ich dann vorher gewesen? Und wenn ich mich selbst gefunden habe, müsste ich dann nicht aufhören, mich zu verändern? Oder finde ich auch auf einer Selbstfindungsreise immer nur Stücke von mir? Und ist dieses Mosaik am Schluss wirklich so viel mehr als ein Zufall? Das Ergebnis vieler Momente, in denen ich mich von Gelegenheiten habe ergreifen lassen?