Boxspringbetten, Leihpersonal und die Freiheit, utopisch zu denken

Ich habe schon oft gedacht, dass diese Welt einfach nicht für Menschen eingerichtet ist. Manchmal sass ich nachts am Flughafen frierend auf einer Metallbank und habe Listen an Dingen geschrieben, die den Aufenthalt an diesem Ort weniger qualvoll machen wuerden.

Zuerst einmal will ich Pflanzen, Indoorgärten mit Palmen und Brunnen wie an den marokkanischen Bahnhöfen. Dann muss es ein Cafe geben, das die ganze Nacht offen hat und bezahlbar ist. Wir brauchen Ruheräume und Bänke mit Polstern, auf denen Menschen schlafen können, wenn sie müde sind, Bücherschränke und Tische, an denen Fremde sich einander gegenübersetzen und miteinander unterhalten können, gegen Langeweile, gegen Einsamkeit und weil an einem Flughafen so viel passiert, über das gesprochen werden will.

Über die Anmassung, sich etwas anderes vorstellen zu wollen

An einem Flughafen um fünf Uhr morgens ist es leicht, über die Welt bitter zu werden. Schimpftiraden zu verfassen. Darüber, dass dieser Flughafen zu so einem grossen Teil aus Steuergeldern gebaut worden ist und mir doch kein bisschen gehört. Dass ich mich an einem Ort, der vorgibt, für die Allgemeinheit da zu sein, bloss einsam und unerwünscht fühle. In der Welt, in der wir leben, sind all die Dinge auf meiner Flughafenliste im Grunde Anmassung.

Und gleichzeitig ist es so: Diese Welt hat mich nicht gefragt, ob ich in sie hineingeboren werden möchte. Und sie wird mich niemals fragen, wie ich sie gern hätte. Das System, in dem ich mich befinde, wurde von Menschen gemacht, die ich niemals kennenlernen werde. Also bleibt mir nur: Das System selber kennenzulernen. Wirklich tief zu verstehen, welche strukturellen und kulturellen Prägungen es in mir gibt – und dadurch immer mehr in der Lage zu sein, eine andere Wirklichkeit zu denken.
Die kostenlosen Schlafplätze auf dem Flughafen meiner Träume sind keine Anmassung. Sie sind nur gegen die Logik der Struktur, die den Flughafen gebaut hat. Und um zu verstehen, wie die Welt funktioniert, kann ich mich an jedem beliebigen Platz und in jeder Situation befinden. Es ist meine Haltung, die alles verändert.

Über Neugier

An einem Juniabend habe ich mich in einem Hostel lange mit einem Amerikaner unterhalten. Er war über einen Monat lang durch verschiedene Länder Europas gereist und stand kurz vor dem Heimflug. Ich fragte ihn: Was hast du gelernt? Wie hat diese Reise dich verändert? Er sah mich sehr verdutzt an und sagte dann, dass er darüber noch nie nachgedacht hätte. Als wir uns nach zwei Stunden voneinander verabschiedeten, bedankte er sich bei mir. Du hast mich inspiriert, sagte er, über alles, was ich erlebt habe, noch einmal nachzudenken.
Auf einmal schien es in dem, was er getan und gesehen hatte, noch eine zweite Ebene zu geben, etwas, das die gleichen Erlebnisse mit der Ahnung von etwas Wertvollem, Unvergänglichen versah – das verlockende Gefühl, alles könne vielleicht viel weniger ordinär sein als gedacht.

Alles, was ich jemals erleben werde, ist ein Stereotyp. Alles, was ich jemals sehen werde, wird stereotypisch sein. Das einzige Mittel dagegen ist Neugier: Die Neugier, näher heranzugehen, mich tiefer mit den Dingen zu beschäftigen. Ich wundere mich oft, wie viele Menschen sich mit einer flachen Realität abfinden. Wie vielen Menschen es nicht vorstellbar erscheint, dass sie die Welt noch lange nicht verstanden und erst recht nicht alles gesehen haben.

Wenn Menschen mir sagen, sie träumten davon, zu reisen, dann frage ich mich oft: Träumen sie nicht eigentlich nur davon, ihre Neugier hemmungslos auszuleben? Davon, durch eine Welt zu gehen, in der sie überall etwas Neues, Unbekanntes und möglicherweise Wundervolles erwarten?

Über sinnvolle Arbeit

Am Ende ist es gar nicht so wichtig, was ich tue und wohin ich gehe. Viel wichtiger ist die Haltung, in der ich es tue. Neugier ist nichts anderes als die fundamentale Bereitschaft, lebendig zu bleiben und mich von dem, was mir begegnet, verändern zu lassen. Dass ich endlos neugierig bin, ermöglicht mir, eine sinnlose Arbeit zu tun und am Abend trotzdem zufrieden, inspiriert und voller Energie nach Hause zu gehen.
Denn mal ehrlich. Ich bin den ganzen Juni quer durch Deutschland gefahren und habe als Promoterin, Hostess und Kellnerin gearbeitet. Viele der Dinge, die ich dabei gemacht habe, waren recht sinnbefreit.

Nehmen wir Betten: Wenn ich als Promoterin für eine Bettenmarke arbeite, kann ich noch so überzeugt sein, dass das Produkt gut ist. Ich habe trotzdem noch nie eine Utopie gelesen, in der Boxspringbetten irgendeine Rolle gespielt haben.

Ich werde dafür bezahlt, Menschen zu einem Kauf zu ermutigen, deren Bedürfnis nach einem neuen Bett anscheinend nicht gross genug ist, dass sie von selbst auf die Idee kommen. Ich werde dafür bezahlt, einen Konsum anzukurbeln, dessen Verschwinden ich mir im Grunde wünsche. Und ich habe noch nie einen arbeitenden Menschen getroffen, der dieses Unbehagen nicht nachvollziehen kann.

Warum also arbeiten wir dann?
In erster Linie für Geld: Für das Recht auf Zugang in der Welt, in der wir leben. Für das Recht darauf, uns darin aufgehoben und erwünscht zu fuehlen. Aber Geld ist nur ein Ziel – und ausschliesslich für Geld zu arbeiten heisst, vor der Sinnlosigkeit meiner Arbeit zu resignieren. Ausschliesslich für Geld zu arbeiten heisst, mein Menschsein zu instrumentalisieren, um innerhalb eines Systems funktionieren zu können. Wenn ich mir meine Neugier – und damit meine Menschlichkeit – erhalten will, muss ich in der Arbeit selbst einen Sinn finden. Etwas, das es aus sich selbst heraus wert ist, getan zu werden.

Über Würde

In diesem Monat habe ich in den unterschiedlichsten Umgebungen gearbeitet. Ich hatte Jobs, bei denen mir Projektmanager Herzchenemojis geschickt und aktiv nach Feedback gefragt haben. Und ich hatte Jobs, bei denen ich kaum begrüsst und verabschiedet wurde und gut aufpassen musste, dass auf dem Stundenzettel am Ende nicht zu viele (unbezahlte) Pausen aufgeschrieben wurden. Generell ist es so, dass Werbejobs viel mehr Wertschätzung erfahren als Tätigkeiten, bei denen es fundamental darum geht, für andere im Service zu sein (z.B. Kellnern). Die Menschen, die letzteres tun, arbeiten oft in sehr prekären Verhältnissen.

Der anstrengendste Job, den ich im Juni hatte, war Servicekraft in einem Messebistro. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich einen Leiharbeitsvertrag in der Hand gehabt; ich war auf einmal „Leihpersonal“.

Für die Menschen, die in solchen Jobs arbeiten, ist das Wort „Leihpersonal“ mehr als nur eine bürokratische Formulierung. Leihpersonal: Das sind um die fünfzig junge Menschen in schwarzen Hosen und weissen Hemden, die sich morgens früh statt einer Begrüssung eine Ansprache über die Konsequenzen ihres möglichen Fehlverhaltens anhören. Leihpersonal, das sind die Kameras über der Theke, durch die die dort arbeitenden Menschen beobachtet werden.

Es ist die Tatsache, dass es oft zu wenig Essen zum Verkaufen gibt und die unausgesprochene Erwartung, dass die, die fürs Verkaufen bezahlt werden, in solchen Fällen auf ihr Mittagessen verzichten. Leihpersonal, das bedeutet: In einer Umgebung zu arbeiten, in der einem ständig suggeriert wird, austauschbar und wertlos zu sein.

Den anstrengendsten Job, den ich hatte, habe ich erst nach dem zweiten Mal gekündigt, weil ich dabei so viel lernen konnte. Es ist das eine, über Sinnhaftigkeit nachzudenken, wenn ich für meine Arbeit geschätzt und gesehen werde. Aber was passiert mit mir, wenn ich in einer Umgebung arbeite, in der auf mein Menschsein nicht der geringste Wert gelegt wird?

Die Rache der Unsichtbaren

Die meisten der Menschen, die dort arbeiten, rächen sich auf die eine oder andere Weise. Sie arbeiten so schlecht und halbherzig wie möglich. Sie klauen, wenn sie die Gelegenheit dazu haben. Und sie breiten in dieser abweisenden Umgebung hemmungslos ihre persönlichen Dramen aus. Die heftigen Streits zwischen den Arbeitenden kamen mir oft vor wie ein Protest, ein renitentes Bestehen darauf, ein fühlendes und nicht nur ein funktionierendes Wesen zu sein.

Aber was passiert mit mir, wenn ich beginne, mich bei meinen Auftraggebenden für die mangelnde Wertschätzung zu rächen?

Ich scheitere erneut daran, meiner Arbeit einen eigenen Sinn zu geben. Ich hänge vom Ergebnis ab und ich lasse es zu, dass die Umstände mich zu einem leidenden, missgünstigen und unehrlichen Menschen machen. Ich lasse es zu, dass das System, in dem ich mich befinde, mich korrumpiert. Ich verliere meine Neugier, meinen Selbstwert und ein Stückweit sogar meine Würde.

Über die Freiheit, schön zu sein

Die Arbeit in diesem Bistro hat mich eine Sache noch einmal ganz tief verstehen lassen: Integrität mir selbst und meiner Arbeit gegenüber ist der einzige wirksame Widerstand in entmenschlichenden Umgebungen. Jedesmal, wenn ich Stress oder Ärger verspürt habe, habe ich mir selbst neu versprochen, die Arbeit um ihrer selbst willen so gut zu machen, wie ich kann. Anstatt selber zu leiden, habe ich mir die Aufgabe gestellt, herauszufinden, was ich tun kann, um es für die anderen leichter zu machen. Wenn ich mich selber in einer solchen Umgebung auf einem Energielevel halten kann, das es mir erlaubt, Schönheit in alles zu legen, was ich tue – dann habe ich schon ein hohes Mass an Freiheit erreicht.

Die Welt, in der wir leben, ist oft nicht für menschliche Bedürfnisse ausgelegt. Aber es ist unsere eigene Verantwortung, uns trotzdem so zu verhalten, als wäre sie es.

Die Geschichte, die ich in diesem Artikel erzähle, ist noch nicht die ganze Geschichte. Es ist der Teil der Geschichte, in dem ich stärker bin als alle um mich herum. Aber es gibt auch eine Geschichte und einen Aspekt, in dem ich mich gleichzeitig als erschreckend angreifbar erlebt habe: Dort, wo mein Körper und gerade diese Schönheit, die Teil meiner Würde ist, selbst wieder zum Kapital werden. Diese Geschichte erzähle ich beim nächsten Mal.

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