Bin ich schön? Warum Schönheit keine Eigenschaft ist

Fast das ganze Jahr habe ich in Jobs gearbeitet, in denen meine Kollegen überwiegend weiblich, niemals übergewichtig und sehr selten über dreißig waren. Wir sprechen nicht darüber, aber wir wissen es alle: Wie wir aussehen, hat einen großen Einfluss darauf, welche Jobs und Positionen wir bekommen. Wer richtig aussieht, wird nach vorne gestellt. Wir sind die schönen Illusionen für die Männer und das Geld. Wir sprechen nicht darüber. Wir vergleichen heimlich unser Make-Up. Wir zeigen Visitenkarten und Notizzettel mit Handynummern herum, die uns zugesteckt wurden, ein unauffälliges Statussymbol aus Papier. Ich dachte, ich bin längst darüber hinweg. Aber niemals hungere ich so sehr nach männlicher Aufmerksamkeit, wie dann, wenn ich die schwarze Hose und das weiße Hemd trage. Auf einmal ist es das, was zählt. Nutze ich meinen natürlichen Vorteil oder korrumpiere ich ihn? Ich stelle fest: Das alles beeinflusst mich mehr als ich dachte.

Eine Eroberung

„Die Abende und Morgende verschwimmen ineinander. Heute früh habe ich festgestellt, dass ich es einfach nicht ganz zusammen kriege. Also… Aber heute früh war ich auch durcheinander. Ich war beim Frühstück dreimal an der Kasse. Ich habe meinen Rucksack an der Straßenbahnhaltestelle stehenlassen, sodass ich aussteigen und eine Station zurücklaufen musste. Mein ganzer Körper hat gesagt: Nein, nein, nein. Warum tust du mir das an? Alles war durcheinander.

Ich habe mit einem Model geschlafen letzte Nacht. Ein attraktiver Mann natürlich. Groß, absurd durchtrainiert, langes, seidiges, schwarzes Haar und ein ebenmäßiges, beinah ausdrucksloses Gesicht. „I’m working in fashion“, hat er gesagt. „Also ist es das, womit du dich auskennst?“ „Oh no. I’m just the object.“

Natürlich hätte ich nicht mit ihm schlafen sollen. Mir war ja klar, dass es ihm nur darum ging, eine Eroberung zu machen. Ja, ich habe ihn gezwungen, sich davor gründlich mit mir zu beschäftigen. Und ich hatte auch den Eindruck, dass ihn das fasziniert hat. Aber er war nicht bereit, seinen Objektstatus zu verlassen, ein Objekt, das ein Objekt begehrt, erobert, sich bereitstellt, eine Seele, die sich leise in den Schlaf verflüchtigt. Und hey, bin ich dumm, und ich würde ja lügen, wenn ich bestritte, dass es eine Rolle gespielt hat: Der Stolz, von einem so schicken Mann begehrt zu werden. Aber während ich mit ihm Wein getrunken habe, während wir über die nach Sommer duftenden Wiesen gegangen sind, während ich mit ihm auf dem halbdunklen Waldweg um die Wette gerannt bin, währenddessen bin ich halt doch weich geworden.“ München, Juni 2023

Denn es beginnt mit der herumgezeigten Handynummer. Und am Ende wird ein ganzer fremder Körper zum Statussymbol. Und ich finde mich wieder in einer ganz absurden, für mich unbekannten Situation. Die irgendwie eine Folge ist von der Arbeitswoche davor. Die Scham am nächsten Morgen. Ein leises Davongehen ohne Abschied, weil ich nicht weiß, was sagen, weil da etwas ist, was mir die Sprache nimmt.

Deutschland, du seltsamer dunkler Ort. Schönheit ist solch eine Rebellion und hier wissen wir so wenig davon. Und wenn wir auf unsere eigenen Körper schauen, spätestens dann haben wir alles falsch verstanden. Als ich in Marokko war: Das war ein anderer Moment, in dem ich verstanden habe, wie tief dieses Missverständnis in mich einprogrammiert worden ist.

Die Schönheitsformel

„Mir wird plötzlich bewusst, dass ich in mir immer einen Druck gespürt habe, Haut zeigen zu müssen. Sexy zu sein. Vielleicht ein Überbleibsel des seltsam fragmentierten Schönheitsbegriffes, den ich als Teenager von den anderen Mädchen mitbekommen habe, aus der Bravo und den Büchern und Filmen, die damals alle mochten.

Als wäre Schönheit eine Art Plus-Minus-Rechnung: Große Augen – plus eins; Haare, die weder richtig glatt noch lockig und schwer zu bändigen sind – minus eins; schlank – plus eins; unreine Haut – minus eins; lange Beine – plus; kleine Brüste – minus… So in etwa sah damals meine persönliche Rechnung aus und was dabei herauskam, war bestenfalls eine Null. Ich habe unzählige Bravo-Artikel gelesen, in denen es darum ging, wie Mädchen am besten ihre Vorzüge zeigen und ihre Makel verstecken. Da meine langen Beine nun einmal auf der Plus-Seite standen, musste ich sie auch zeigen, sonst hätte ich diesen Vorteil nicht nutzen können. Und wäre Gefahr gelaufen, mich in den Augen meines imaginären, männlichen Betrachters endgültig auf der gefährlichen Minus-Seite wiederzufinden.

Natürlich weiß ich schon lange, dass all das gelogen war. Schönheit ist keine Rechnung – Schönheit ist nicht rationalisierbar. Schönheit ist das Strahlen von innen heraus. Sie hat mit Präsenz zu tun, mit Lebendigkeit und vor allem sehr viel mit Würde. Es ist Würde, Respekt gegenüber der eigenen Arbeit, wie viel Zeit die Menschen hier sich nehmen, um noch den letzten Winkel mit bunten Kacheln, verschnörkelten Geländern und Vorhängen in leuchtenden Farben zu versehen. Die Frauen, die sich in lange, bunte Kleider, federleichte Schals und dekorierte Strohhüte kleiden, entziehen sich der westlichen Plus-Minus-Rechnung. Ihre Schönheit drückt sich aus in der Sorgfalt, die sie auf die Wahl ihrer Kleidung und die Pflege ihres Körpers verwenden. Sie drückt sich aus in ihrem Lächeln, in der Ruhe und Präsenz ihrer Bewegungen. Und das gilt übrigens auch für die Männer.“ Chefchaouen, Oktober 2022

Ich hatte gedacht, ich würde mich unfrei fühlen, wenn ich meine Ellbogen und Knie bedecken müsste. Aber ich fühlte mich erleichtert. In meinem Erleben war der marokkanische Schönheitsbegriff einfach demokratischer. Er verlangte von mir nicht eine grausame Beurteilung meines eigenen Körpers, sondern Selbstfürsorge. Auch und gerade dort, wo es niemand sieht. Der arabische Schönheitsbegriff ist für mich immer auch ein Versprechen, etwas gerade Unerreichbares, ein ästhetisches Spiel mit innen und außen. Mehr eine Kunstform als ein enges, objektifizierendes Ideal.

„Beauty is the harvest of presence.“

David Whyte

Wenn ich eine schöne Blume anschaue, käme ich nie auf die Idee, dieses Bild mit meinem Idealbild einer Blume abzugleichen und die Blume danach zu bewerten, wie sehr sie diesem Bild entspricht. Warum verhalte ich mich meinem eigenen Spiegelbild gegenüber dann so anders? Warum werde ich blind, wenn ich in meine eigenen Augen schaue?

Der anglo-irische Poet David Whyte schreibt: Beauty is the harvest of presence. Schönheit ist die Ernte der Gegenwart. Oder genauer: Das, was wir wahrnehmen, wenn wir absolut präsent sind. Schönheit ist ein Zustand von Präsenz und Selbstvergessenheit im gleichen Moment, der die Grenzen zwischen Betrachter und Betrachtetem auflöst. Schönheit lädt uns durch Verzückung ein an die furchteinflößende Grenze zwischen dem, von dem wir glauben, dass wir es sind, und dem, was wir für die Welt halten. Das Erleben von Schönheit ist immer nur jetzt, und es ist immer ein Zustand von Verbindung, von Antwort.

Schönheit ist ein Zustand, keine Eigenschaft

Und eigentlich wusste ich das schon mit sechzehn. Dass es so gemeint war, die ganze Zeit. Dass es im Begriff der Schönheit etwas gibt das tiefer ist als Vorzüge und Makel. Schönheit ist gar keine Eigenschaft. Sie ist ein Zustand.

Es ist mir plötzlich bewusst geworden und ich weiß gar nicht mehr genau, warum. Ich bin spazieren gegangen. Es war Sommer, es hatte geregnet, aber gegen Abend war die Sonne herausgekommen. Ich trug Gummistiefel, ich war nicht geschminkt. Aber plötzlich begann ich, die Präsenz meines eigenen Körpers wahrzunehmen wie noch nie vorher.

Die Kraft in meinen Beinen. Die Harmonie meiner Bewegungen, Stoff, der an meiner Haut reibt, das Kitzeln meiner Haare an meinem Hals. Ich sah mich selber zum ersten Mal nicht von außen, sondern von innen heraus. Schön zu sein war keine passive Eigenschaft mehr, sondern ein aktiver Zustand, eine Technik des mich Vertiefens in meine eigene Präsenz.

Wenn ich durch eine Stadt gehe und mir meiner selbst auf diese Weise bewusst bin, dann drehen sich Menschen nach mir um und Fremde lächeln mich an.

Wenn ich eine Lesung habe, dann bereite ich mich bewusst darauf vor, diesen Zustand zu erreichen. Ich schminke mich. Oder ich tue es bewusst gerade nicht. Ich suche meine Kleider aus. Ich trage Parfüm. Ich schaue mich an. Ich freue mich. Vor allem freue ich mich.

Oh. Und dann bin ich in dieser Welt, die über Schönheit nicht genug weiß. Vielleicht zu lange. Zu lange, um noch stärker zu sein als die Umstände. Obwohl ich mich erinnere, bin ich jeden Tag konfrontiert mit verzerrten Abbildern von Schönheit. Menschen, die sich selbst behandeln als wären sie eine Summe von fehlerhaften Einzelteilen und keine ganzen, lebenden, atmenden Wesen. Eine quantifizierte, verkäufliche Ästhetik, die das überdeckt, was vielleicht sogar ein Grundbaustein menschlicher Zivilisation ist: Die Auseinandersetzung mit Schönheit. Und kann sich eine Gesellschaft, die die Schönheit vernachlässigt und missbraucht, überhaupt noch zivilisiert nennen?

Eine Antwort zu „Bin ich schön? Warum Schönheit keine Eigenschaft ist”.

  1. As a reference value for personal feelings, beauty eludes a universally accepted, binding objectification and definition.
    Beauty is the omnipotence of a human figure whose face enchants us even into our dreams.

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