Korruption ist nicht so schlecht, wie du denkst. Drei Gründe

Als ich das erste Mal in meinem Leben Bestechungsgeld zahlen sollte, habe ich das gar nicht kapiert. Ich wohnte in einem südalbanischen Dorf und wollte von dort ein Geburtstagspaket an meinen Vater schicken. Mein Haus lag ziemlich weit außerhalb am Strand; als ich in der kleinen Poststelle im Hauptdorf ankam, hatte ich schon über eine Stunde Fußweg hinter mir. Doch die Beamte hinter dem Schalter sagte zu mir: „Pakete verschicken wir hier nicht.“ Ich glaubte erst, ich hätte sie in unserem albanisch-englischen Kauderwelsch falsch verstanden. Aber die Frau weigerte sich partout, meine Post anzunehmen und schließlich zog ich unverrichteter Dinge wieder ab.

Erst als ich schon eine gute halbe Stunde mit meinem Paket im Arm durch den Olivenhain gewandert war, kam mir die plötzliche Erkenntnis: Der 200-Lek-Schein (damals umgerechnet etwa 1,50 Euro oder vier Espresso), den die Postbeamte während unseres Gespräches wie zufällig vor sich auf die Theke gelegt hatte.

Wenn Korruption barrierefrei wird

Albanien ist ein durch und durch korruptes Land. Das wusste ich natürlich. Aber erst, als ich dort gelebt habe, habe ich gespürt, was das eigentlich bedeutet: Die sozialen Codes, die damit verbunden sind, der direkte Einfluss auf die Art, wie Menschen zusammenleben und miteinander interagieren.

In meiner nordwesteuropäischen Sozialisierung wurde die Welt immer in zwei Gruppen aufgeteilt: Die reichen, demokratischen und korrekten Länder und die ärmeren, korrupten. Dabei wissen wir eigentlich alle, dass die Geschichte von korruptionsbefreiten Westen ein Märchen ist. Auch bei uns gibt es Korruption. Aber sie findet nicht zwischen Polizisten und Autofahrern statt, sondern nur dort, wo es um Millionenbeträge geht. Wenn wir sagen, dass Albanien ein korruptes Land ist, dann müssten wir eigentlich korrekter definieren: Albanien ist ein Land mit niedrigschwelliger Korruption.

Und diese Form der Korruption ist oft gar nicht mal so schlecht.

1. Korruption kann gerechter sein als Bußgelder

Stellen wir uns folgende Situation vor: Ein Autofahrer in Deutschland fährt zu schnell. Er wird geblitzt und bekommt einen Strafzettel, den er zähneknirschend bezahlt. In Zukunft bemüht er sich, die Geschwindigkeitsbegrenzung besser einzuhalten. Ein anderer deutscher Autofahrer fährt ebenfalls zu schnell und bekommt einen Strafzettel mit dem gleichen Betrag. Er zuckt die Achseln und überweist das Geld – bei seinem Einkommen tut ihm die Strafe kaum weh.

Aber was, wenn unsere beiden Autofahrer Albaner sind? Wer jemals versucht hat, in Albanien nach den offiziellen Geschwindigkeitsbegrenzungen zu fahren und mit Tempo 30 eine gerade, zweispurige Straße entlanggefahren ist, der merkt schnell, dass hier etwas nicht stimmt. Blitzkästen sind für den albanischen Staat wahrscheinlich auch zu teuer – die Regierung hat sich damit begnügt, ab und zu ein „Vorsicht Blitzer“-Schild aufzustellen.

Stattdessen gibt es Straßenkontrollen der Polizei. Welches Auto angehalten wird, liegt damit im Ermessen der Polizeibeamten. Die Hauptintention in diesem Moment ist nicht das Ausstellen eines Strafzettels, der sowieso nicht so leicht einzutreiben wäre: Gerade im ländlichen Raum haben viele Menschen noch immer kein Bankkonto. Was der Polizist in diesem Moment will, ist Geld bar auf die Hand und so wenig Probleme wie möglich. Gehen wir davon aus, dass der Einkommensunterschied unserer beider Autofahrer an den Autos sichtbar wird: Wer von beiden wird eher angehalten werden? Der mit dem neuen Mercedes oder der, der möglicherweise kaum noch Geld für die Tankfüllung hat? Und ist es nicht wahrscheinlich, dass auch der zu zahlende Betrag sich bei beiden unterscheiden würde?

Sicher weiß ich das nicht. Als Ausländerin mit einem deutschen Nummernschild habe ich in Albanien eine Art Narrenfreiheit gehabt. Aber was ich in verschiedenen Situationen erlebt habe, ist: Da, wo es Korruption gibt, werden Strafen zur Aushandlungssache und „kein Geld zu haben“ zu einem gewichtigen Argument.

2. Korruption macht flexibel

Und genau das ist der zweite positive Nebeneffekt von niedrigschwelliger Korruption: Sie setzt Flexibilität voraus. Ein verlangtes Bestechungsgeld muss für den Bestechenden bezahlbar sein. Sonst weigert er sich vielleicht, nimmt eine Leistung nicht in Anspruch oder findet eine andere Lösung.

Für den, der bestochen werden möchte, wäre das ungünstig, denn er würde dadurch leer ausgehen. Je nach Situation haben also beide ein mehr oder weniger großes Interesse daran, dass der „Deal“ zustande kommt.

In Albanien werden auch außerstaatliche, ganz soziale Angelegenheiten gelegentlich mit Geld geregelt. Ich weiß von mehreren Fällen, in denen ein Mann einen anderen schwer beleidigt hat und dann – um die Ehre wiederherzustellen und einen langen Streit zu vermeiden – eine Art „Entschuldigungsgeld“ von 2000 Lek gezahlt hat. Das ist nicht gerade wenig. Für einen ungelernten Arbeiter auf der Baustelle wäre das ein Tageslohn. Eines ist sicher: In einem Land mit niedrigschwelliger Korruption sind Menschen ständig herausgefordert, Dinge miteinander auszuhandeln. Das kann langwierig, unberechenbar und manchmal wirklich fies sein. Aber diese Form der Korruption ist vielleicht auch eine natürliche Konsequenz einer Gesellschaft, in der die Machtverhältnisse vielschichtiger und kleinteiliger sind als in einem gut organisierten Staat wie Deutschland. Und da, wo die Regeln weniger klar sind, steigen unter Umständen die (Aus-)Handlungsmöglichkeiten.

3. Korruption fördert persönliche Verantwortung

Und das ist der dritte und wahrscheinlich wichtigste Punkt: Korruption ist eine durch und durch persönliche Angelegenheit.

Kehren wir zurück zu dem Beispiel mit der Straßenkontrolle. Wenn in Deutschland jemand einen Strafzettel bezahlen muss, wird er in der Regel nicht den vollstreckenden Beamten dafür verantwortlich machen. Wenn wir trotz allem versuchen, an eine persönliche Verantwortung zu appellieren, bekommen wir die Antwort: „Tut mir leid, da kann ich jetzt auch nichts machen – so sind die Regeln eben.“

Ein albanischer Beamter hat diesen Satz nicht zur Verfügung. In einem Land, in dem Korruption überall und für jeden erfahrbar ist, wäre es einfach unsinnig, sich auf Regeln zu berufen. Auch Menschen, die für den Staat arbeiten, sind deshalb nicht – wie in Deutschland – von ihrer persönlichen Verantwortung scheinbar befreit. Albanien ist ein Land mit einem schwachen Staat. Viele Dinge, die bei uns etwa der Sozialstaat übernimmt, werden dort von dezentralen, familiären und nachbarschaftlichen Netzwerken getragen. Bei Konflikten wird eher auf die Unterstützung der eigenen, sozialen Verbindungen zurückgegriffen als auf die Polizei. Auch die Polizisten selbst sind ja in diese Netzwerke integriert. Ein Beamter mit einer Machtposition, der für sich einen persönlichen Vorteil möchte, hat daher vieles zu berücksichtigen. Wer steht gerade vor mir? Wie verhältnismäßig ist meine Forderung, wie sehr werde ich diesen Menschen verärgern? In welche sozialen Netzwerke ist er eingebunden? Wie wird mein Handeln meine Stellung im Dorf beeinflussen?

Das ist nicht gerecht. Das Glück oder Unglück der Geburt spielt eine große Rolle. Trotzdem wirkt es als ein regulierender Faktor im Verhalten von korrupten Beamten, dass sie sozial eingebunden und persönlich verantwortlich sind. Das Machtgefälle besteht eben immer noch zwischen Mensch und Mensch und nicht zwischen Mensch und Institution. Es wird dadurch tendenziell kleiner.

Ist ein korruptes Land ein besseres Land?

Niedrigschwellige Korruption ist nicht die bessere Korruption. Viele Menschen in Albanien schätzen die Berechenbarkeit und Verlässlichkeit des deutschen Systems. Oder auch die Tatsache, dass sie in Deutschland nicht für die Fehler ihrer Eltern und Verwandten geradestehen müssen.

Ich werde nie ganz wissen, wie es ist, in Albanien geboren zu sein und ich will mir nicht anmaßen, zu behaupten, dass ich nach meiner Zeit dort deutsche und albanische Strukturen abschließend und allgemeingültig miteinander vergleichen kann. Der Grund, warum ich meine Beobachtungen zur albanischen Korruption hier – auf einem deutschen Blog – teile, ist ein anderer: Sie sind für die meisten Menschen überraschend. Sie gehen gedanklich in eine Richtung, die wir nicht gewöhnt sind.

Kritik im Land ohne Regenrinnen

Was mir durch mein Schulsystem vermittelt worden ist, ist die Überlegenheit der westlichen Demokratien. Kritik am System war erlaubt und erwünscht, aber immer auch ein bisschen in dem Bewusstsein, dass es sich dabei um einen Luxus handelte. Ein Privileg, was uns durch unser System gegeben worden war. Wirkliche Probleme, das hatten die anderen: Die armen, die korrupten, die unfreien Länder.

Es ist eine Grundannahme, die in den meisten Menschen auch lange nach der Schulzeit unhinterfragt besteht. Und dabei wissen wir gar nicht, wovon wir reden. Was bedeutet es wirklich, wenn wir sagen, Albanien sei ein „korruptes“ Land?

An welchen Maßstäben wird die Armut gemessen, die Albanien zum „ärmsten Land Europas“ macht?

Wo entsteht die Unfreiheit der unfreien Länder?

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