Neapel, Teil 1: Die unterbrochene Geschichte

„Es gibt Orte in der Welt, wie Neapel (oder Wien, Prag, Venedig, Triest, Alexandria, New Orleans und so weiter) wo die Geschichte aufgehört hat, nie ganz realisiert worden ist.“

Raffaele La Capria, L’Armonia Perduta (Übersetzung der Autorin)

Es gibt Orte, die können nur geliebt oder gehasst werden. Neapel ist einer davon. Das sagt Emiliano, Besitzer meines Hostels, mit dem ich jeden Vormittag auf der Terrasse eine Zigarette rauche. Meine Mitbewohner, mit denen ich abends am Küchentisch Rotwein trinke, sagen: Es ist so dunkel hier. So verwahrlost. Die Gassen sind so eng, das Tageslicht kommt nicht bis zum Boden, man hat den Eindruck, als dämmere es mitten am Tag. Überall liegt Müll, überall ist es laut.
Abends, am Küchentisch, trinken wir Wein zusammen, aber tagsüber leben wir in unterschiedlichen Welten.

Chaos und Cappuccino

Seit fast eineinhalb Wochen bin ich hier. Morgens gehe ich die fünf Minuten bis zu meinem Lieblingscafé an der Piazza Cavour. Ich trete aus dem dunklen Innenhof an der Via Salvator Rosa hinaus, durch die Tür, die so klein und schmal ist, als wäre sie für ein Kind gemacht. Ich atme ein: Kühle Herbstluft, Waschmittel, Autoabgase, der Duft von Frittiertem. Ich überquere die Straße, inmitten des Verkehrs, der wie ein Zyklon um mich herum braust, heute sterbe ich noch nicht, heute nicht.

Ich gehe am archäologischen Museum vorbei und durch den Park, verschwenderisch grüne Palmenstauden zwischen leeren, zerdrückten Zigarettenpackungen, die Statue im Brunnen, umgeben von ihrem üblichen Hofstaat aus Tauben. Der Mann im Kiosk weiß schon, was ich will: Einen Cappuccino und ein cornetto al pistacchio.

In den ersten Tagen habe ich mich hoffnungslos fasziniert und hilflos gefühlt. Ich habe schlecht geschlafen und fast nichts gegessen. Auf manche Menschen übt dieser Ort eine Wirkung aus wie ein Sirenengesang, etwas, was immer da ist, irgendwo inmitten des nicht endenden Lärms, für die, die in der Lage sind, zwischen den Geräuschen hindurchzuhören. In den ersten Tagen bin ich vollkommen erschöpft zurück zu meiner Unterkunft gekommen, unfähig, all die verschiedenen Eindrücke auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Ich nehme mit meinem Handy die Straßengeräusche auf und höre mir die Aufnahmen immer wieder an, in der Hoffnung, etwas zu hören, was ich nicht ganz benennen kann. Überall der Anschein einer vergangenen Großartigkeit, prächtig bröckelnde Ruinen, weggeschlossen hinter schmiedeeisernen Gittern oder Pressspan-Platten. Abblätternde Putzschichten, grellbunte Marienheiligtümer, plötzlich eine Piazza aus hellem Stein, die sich aus dem Gewirr der dämmrigen Gassen heraus öffnet wie eine Seerose auf einem dunklen Teich. Einen Tag nach meiner Ankunft schrieb ich in mein Tagebuch:

„Alles in allem habe ich eine so umfassende Freude am Wahrnehmen und Fühlen, dass ich kaum noch etwas hässlich finden kann. Zerstörung kann hässlich sein, oder die Ödnis, die davon verursacht wird. Aber Chaos birgt in sich zu viel Potenzial, um abstoßend zu sein.“

Über den Riss in der Zeit

Mir war schnell klar, dass ich an die Hand genommen werden muss, um in all dem nicht verlorenzugehen. Drei Tage nach meiner Ankunft bin ich in eines der zahllosen Antiquariate gegangen und habe nach einem Buch eines napoletanischen Autors gefragt. Nach einer erregten Diskussion der drei im Laden anwesenden Menschen zog eine junge Frau aus einem Bücherstapel „L’Armonia Perduta“ (Die verlorene Harmonie) von La Capria heraus. Vorne auf dem Plastikumschlag: Eine Ansicht der Bucht von Neapel, in der Mitte durchgerissen. Schon beim Lesen des ersten Kapitels wurde mir klar, dass hier jemand Worte gefunden hatte für die Merkwürdigkeit dieser Stadt. Als hätte es hier irgendwann einen Bruch gegeben, als sei etwas nicht ganz zu Ende oder weitergegangen – als sei die Zukunft nie ganz angekommen und die Zeit stehengeblieben zwischen Manifestationen einer unvollendeten Vergangenheit.

Aber was hat es auf sich mit dieser imaginären, ganz gegenwärtigen Vergangenheit? Neapel ist wie eines der mythologischen Gemälde aus dem Jahrhundert vor Christus, die ich im archäologischen Museum gesehen habe.

Unterschiedliche Stadien des Verblassens, die dafür sorgen, dass manche Figuren in leuchtenden Farben hervortreten, während andere nur noch als Schemen sichtbar sind und dahinter die Landschaften seltsam uneindeutig und mehrdimensional wirken, wie etwas Geträumtes, nur halb Erinnertes.

Ich habe gedacht, vielleicht wird die ganzen drei Wochen meines Aufenthaltes nicht mehr passieren, als dass ich durch Straßen gehe und in Cafés sitze. Vielleicht werden meine Erinnerungen nachher nichts Erlebtes enthalten, nur Gesehenes, Wahrgenommenes, Assoziiertes. Aber dahinter liegt meine schon bekannte, endlose Neugier, die nichts anderes ist als die Sehnsucht, in etwas hineingezogen zu werden. Ich möchte von einem Ort verschlungen und wieder ausgespuckt werden, ich möchte die Distanz und die Fassung verlieren.

Die verrückteste aller Welten

Eines Abends ging ich durch die immer überfüllte Straße im Zentrum der Altstadt, die mein Mitbewohner aus Irland nur als „pizza street“ bezeichnet. Es dämmerte gerade, als ich von einem spindeldürren Mann in einem löchrigen T-Shirt angesprochen wurde, der am Rande der Straße seine Fotos an Touristen verkauft. Wie das hier so üblich ist, lud er mich nach wenigen Minuten zu einem Kaffee ein. Wie das bei mir so üblich ist, sagte ich nein und wollte schon weitergehen, als er in einen zutiefst bestürzten und empörten Redeschwall ausbrach. Es war dieser unerwartete Gefühlsausbruch, der mich davon überzeugte zu bleiben, mich neben ihn in einen Campingstuhl zu setzen und mich mehrere Stunden lang mit ihm zu unterhalten.

Dario di Cesare macht Fotos von jungen Frauen mit alten Dingen. Es sind geheimnisvolle, ambivalent erotische Fotos, die wirken wie aus der Zeit gefallen. Als ich diese Bilder sah, fing mein Herz heftig zu klopfen an und ich dachte: Es gibt wirklich Inszenierungen, die tiefer gehen als das echte Leben.
Lange saß ich da. Eine Frau kam vorbei und kaufte drei ausgesprochen durchschnittliche Ansichten vom Meer und in den Gassen aufgehängter Wäsche. Dario schwang eine kleine Rede darüber, wie schwer es ist, von der Kunst zu leben. Sie schaute uns an aus ihren perfekt geschminkten Augen. „Aber so frei wie ihr“, sagte sie, „bin ich nicht.“
Da wurde mir auf einmal bewusst, dass ich nicht mehr nur Betrachtende war, sondern selber zum Teil einer Szene geworden. Auf einmal hatte sich mir eine Tür zur Seele dieser Stadt geöffnet. Einer wie Dario, der ist nur hier denkbar, der scheint genau hier hinzugehören: Mit seiner Inszenierung einer nie endenden Vergangenheit, seinem Widerstand gegen eine Welt, die für ihn nur „pazzesca“ ist, verrückter als verrückt, und seiner leidenschaftlichen, abgrundtiefen Angst vor dem Mysteriösen, Unfassbaren, von dem er in seiner Kunst zugleich magisch angezogen ist.

Echte Männer

Aber Vorsicht! Sie ist trügerisch, diese imaginäre Vergangenheit. Warum habe ich so eine Sehnsucht? Warum will ich zu einer der Fantasiegestalten in Darios Bildern werden? Warum möchte ich so gerne über die Zäune zu den Ruinen klettern und in ihrem Inneren so lange schweigen, bis ich etwas verstehe – irgendwas?

Kaum hatte die imaginäre Vergangenheit von Neapel mich in Gestalt von Dario zu sich eingeladen, zeigte sie auch schon ein anderes Gesicht. Irgendwo dazwischen hatte er sich von mir dann wohl doch etwas anderes erhofft als Bilder und erklärte mir rigoros, wenn daraus nichts würde, wolle er mich nicht wieder sehen. Es hätte bestimmt eine großartige Filmszene abgegeben – der daraus folgende Streit auf der nächtlichen Piazza, in dem er mir immer wieder erklärte, er sei ein vero uomo, ein echter Mann, und echte Männer machen das eben so. Wie ein Kreisel drehte er sich um sich selbst und zeigte auf die vorbeigehenden Männer: „Der ist dumm! Der auch! Und der! Die sind alle i stupidi!“ Und in meinem Zorn hoffte ich für einen Moment, einer dieser Männer würde sich provoziert fühlen und das tun, was ich selbst in diesem Augenblick gerne getan hätte, aber nicht zuwege brachte.

Die einzige Zeit, die wir haben

Am dritten Tag wachte ich auf und merkte, dass es mir wieder egal war.
Aber während ich so wütend war, habe ich einen langen, nie abgeschickten Brief geschrieben. In diesem Brief stand:

„Letztendlich bist du nur ein alter Mann, der sich über die verrückte Welt beschwert, die sich auf eine Weise verändert, die dir nicht gefällt, und die jüngeren Menschen, die in deinen Augen bloß ein Fehler sind. Glaubst du denn, du seist das Ende der Evolution? (…)
Weißt du, ich habe Angst. Ich weiß nicht viel. Mich können Dinge verletzen, nicht weil ich eine Frau bin, sondern weil ich mit Schmerz umgehen kann. Ich brauche die Illusion nicht mehr, komplett frei und unverbunden zu sein. Ich muss nicht mehr weglaufen, um meinen eigenen Weg zu gehen. Ich werde im Zentrum der Welt leben und im Zentrum der Veränderung und wenn es nach mir geht, können sich die ganzen echten Männer miteinander über diese Welt beklagen, bis die Apokalypse kommt.“

Als ich so wütend war, wurde mir bewusst, dass ich ganz gegenwärtig bin. Dass die Sehnsucht nach einer anderen Zeit als dieser auch einen Eskapismus darstellt, in dem ich nicht erstarren will. Ich kann gar nicht anders, als diese Welt und diese Zeit zu lieben und auch, wenn ich weiß, dass es nur eine brüchige Verbindung ist, die mich und die Welt zusammenhält, will ich nicht davonlaufen. Ich bin ganz gegenwärtig. Ich habe keine andere Zeit als diese.

Aber Zeit ist auch Illusion.
Sie vergeht nicht an allen Orten auf die gleiche Weise. Und hier in Neapel, ich glaube wirklich, dass das stimmt, vergeht sie irgendwie anders. Bin ich jung, bin ich alt? Ist schon heute oder noch gestern? Ich kenne mich immer weniger aus.

Anmerkung: Der Titel dieses Artikels „Die unterbrochene Geschichte“ ist auch der Titel des ersten Kapitels von L’Armonia Perduta („La storia interrotta“). Er reflektiert damit, wie sehr mein persönliches Erleben und auch die Wörter, mit denen ich es beschreiben kann, von der Literatur von Raffaele La Capria beeinflusst sind.

Auch wenn er möglicherweise ebenfalls ein alter Mann war, der sich über die verrückte Welt beschwert.

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