Neapel Teil 2: Die verlorene Harmonie

„(…) auch wenn ich, körperlich, stechend, den Ruf dieses „schönen Tages“ gespürt habe, als eine unwiderstehliche Sehnsucht danach, unbestimmt zu leben, nach dieser einfachen und friedlichen Indifferenz gegenüber allem und mir selbst, habe ich immer gewusst, auch jetzt, dass das Leben eine Konstruktion des Bewusstseins ist… (…) Aber wann ist es passiert, dass der „schöne Tag“ zu diesem Mangel geworden ist, als ob etwas für immer verloren wäre (…)?“

Raffaele La Capria, „L’Armonia Perduta“

Die Stadt, die La Capria in „Die verlorene Harmonie“ beschreibt, gibt es nicht mehr. Das Buch wurde 1986 veröffentlicht. Orte, die für ihn zur Metapher seiner Stadt wurden, haben sich verändert. Allen voran der Palazzo Donn’Anna, unterhalb von Posilippo am Meer. Dieses von Wind und Salz verwüstete Fantasiegebilde, „wie ein Fels, der gerade erst aus der Tiefe des Meeres heraus entstanden ist“, ist heute unter einem Gerüst verschwunden. Palazzo Donn’Anna ist nicht länger ein verlassener Ort, an dem Kinder spielen, sondern ein Gebäude, das renoviert wird, an der Tür ein Schild mit der Aufschrift „Privatbesitz“. Als ich das sah, wurde ich ein bisschen traurig und fragte mich, was La Capria dazu wohl gesagt hätte. Hätte er sich gefreut, dass diese Metapher seiner Stadt vor dem Verfall gerettet wird? Oder hätte er gefunden, dass es ein Rückschritt ist? Nur im Verfallszustand gehört ein Palast den Kindern und allen Leuten. Vorher nicht, und später auch nicht mehr.

Aber ganz an der äußeren Ecke des Palastes gibt es ein Café mit einem kleinen Balkon auf die Bucht hinaus. Dort saß ich dann, lange und innerlich vollkommen still. Der Vesuv verschwand im blaugrauen Dunst.

Ein Regenbogen spannte sich über den Häusern auf und verblasste dann wieder. Die Stadt auf der anderen Seite der Bucht erstrahlte rötlich im Sonnenuntergang, dann strahlend hell im künstlichen Licht. Der diesige Himmel wurde die ganze Nacht nicht richtig schwarz.

Das Paradies auf Erden

„Nein, es war nicht das Paradies auf Erden“, schreibt La Capria über die verlorene Harmonie, „denn es gab noch immer das Volk der Gassen und die Misere: Aber die Harmonie, von der ich spreche, ist etwas anderes als soziale Gerechtigkeit…“

Während der Vesuv im Abenddunst verschwindet, gibt es sie noch immer, die grausame, ungerechte Welt. Ich gehe den ganzen, langen Weg am Meer zu Fuß zurück. Das Wasser schluckt die Geräusche der Stadt und sorgt für eine anhaltende Stille. Nein, es ist keine vollkommene Stille: Es gibt noch immer das Knattern der Motorroller, Krankenwagensirenen, die Stimme eines Mannes, der sich am Telefon in seinem melodischen, napoletanischen Dialekt für irgendeine nicht eingehaltene Verabredung rechtfertigt. Wenn La Capria den Zustand der Harmonie als eine Indifferenz beschreibt, dann meint er damit, glaube ich, nicht Ignoranz oder Gefühlskälte. Es ist die Form von Indifferenz, die eigentlich Non-Dualismus ist, die aus einem tiefen Frieden und einem so vollkommenen Verankert sein in der Welt entsteht, dass sich die Grenzen zwischen Gut und Böse, Schön und Hässlich einfach auflösen.

Inmitten des abendlich überfüllten Stadtzentrums denke ich: Es ist gar nicht die Grausamkeit, der ich entkommen möchte, sondern der Zwang, alles definieren und beschreiben zu müssen. Die Harmonie, nach der ich mich sehne, ist nichts anderes als die Freiheit, unbestimmt zu leben. Die Freiheit, genau dort zu sein, wo ich bin, und nirgendwo anders. Ich will, ich will, ich will nicht immer für alles eine Begründung haben, was ich tue. Das Leben an sich ist so einfach. Und hier zieht es mich mit sich in einen Strudel aus Absonderlichem und Wunderbarem, das Leben zieht mich mit, aber vielleicht bin es auch einfach ich, die das Leben an- und mitzieht, vielleicht bin ich selbst der leere, pulsierende Raum, in dem das Leben erst stattfinden kann.

Als hätten Vögel von diesem Tisch gegessen

Ein paar Tage nach dem Streit schreibt mir der Fotograf: Ich möchte dich wirklich gerne fotografieren. Ich vermute, es ist nicht konsequent, aber ich habe ihm ganz ohne Entschuldigung verziehen. Das Projekt interessiert mich mehr als der Zustand, wütend zu sein. In den schönen, altmodischen Kleidern, als „Valentina“, werde ich selbst zur Verkörperung dieser verlorenen Harmonie, nach der auch Dario sich zu sehnen scheint. Ich bin eine perfekte Frau in einem Zimmer mit rissigen Wänden und fleckigen Decken, einem Tisch voller Tomaten und Stücken eines zerrissenen Brotes, so, als hätten Vögel von diesem Tisch gegessen und nicht ein Mensch. „Denk nicht“, sagt er zu mir, „Valentina denkt nicht, Valentina ist nur da.“

Die Fantasiegestalt, die ich und die anderen Frauen auf seinen Bildern verkörpern, ist ganz frei, ohne Hemmung, ohne Grenze, ohne Moral. So wie die Menschen in seiner, Darios, ganz persönlichen imaginären Vergangenheit. Auch Valentina lebt unbestimmt, nur um des Lebens willen.

Am Abend nach diesem Fotoshooting bin ich zu aufgekratzt, um gleich zurück ins Hostel zu gehen. Stattdessen gehe ich in eine Bar, bestelle mir einen Aperol Spritz und hole „L’Armonia Perduta“ aus meiner Tasche. Hier ist der Widerspruch: Dieser Zustand der Harmonie, jenseits von Bewertung und Verurteilung, ist doch ein Zustand von absoluter Gegenwart. Wozu brauche ich dann diese ständige Rückbesinnung auf die imaginäre Vergangenheit?

Sehr weit komme ich nicht mit meiner Lektüre an diesem Abend. Nach wenigen Minuten nähert sich mir ein Mann, schielt unter den Buchrücken und ruft seinem Freund zu: „Sie liest La Capria!“, was für Ausrufe des Entsetzens und ein lautes Gelächter sorgt. Verblüfft lasse ich mein Buch sinken. „Was ist los?“, frage ich. „Was ist falsch mit La Capria?“

Einer der beiden Männer kommt herüber zu meinem Tisch und erklärt, La Capria sei eine alte Kamelle und völlig überbewertet. Lieber solle ich sein Buch lesen, was er mir dann auch gleich schenkt.

Der Schatten des Satyrs

Dieser Mann war der napoletanische Schriftsteller und Philosophieprofessor Gennaro Ascione. Und das Buch heißt „Vendi Napoli e poi muori“ (Verkauf Neapel und stirb), eine Wortspielerei mit dem berühmten Goethe-Zitat „Siehe Neapel und stirb!“ (in Italienisch „Vedi Napoli e poi muori“). Es ist eine dystopische Geschichte, in der Neapel von Cyborg-Möwen regiert wird. Eine Literatur, die mindestens genauso fantasievoll, mindestens genauso assoziativ ist wie die von La Capria. Nur dass die Zukunft, die bei La Capria noch als ein nie eingelöstes Versprechen erscheint, in der Geschichte von Gennaro zur düsteren Drohung am Horizont wird.

Weil mir das gerade einfiel und er mir sehr intelligent erschien, fragte ich ihn, was es mit den Masken auf sich hat, die in den auf den Gemälden im Museum dargestellten Szenen oft am Rand auf irgendwelchen Mauervorsprüngen herumliegen. Eine bärtige Maske ist das, mit riesigen Augenhöhlen und einem irren Gesichtsausdruck. „Das ist die Maske des Satyrs“, sagte er, „der dafür sorgt, dass die Feste eskalieren und in Chaos ausarten.“

Ich musste sehr lachen. „Die waren klug, diese Leute. Ohne den Satyr ist es auch langweilig.“ Er lachte ebenfalls und fragte dann, ob er der Satyr sein und mir ein zweites Spritz holen darf.

Der Satyr – wieder ein Ausdruck der absoluten Gegenwart, dem verführerischen Gedanken, es gäbe kein Morgen, um das heutige Chaos zu bestrafen. Ich bilde mir ein, ich sehe den Schatten des Satyrs ständig über die Wände huschen. War er es nicht, der gerade eine weitere Flasche Wein auf den Tisch gestellt hat, wo doch alle schon viel zu viel getrunken haben? War er es nicht, der mit mir durch die nächtlichen Gassen gegangen ist und mir erzählt hat, in welchen Palästen es spukt und wo die Staute des Nilgottes steht, wo ich doch längst hätte zuhause sein sollen?

Andersherum wäre es immer noch wahr

La Capria lebte in einer Gegenwart, die eingeklemmt war zwischen einem für immer verlorenen, schönen Gestern und einem Morgen, was nie kommen wird. Aber während ich diesen Satz schreibe, denke ich: Andersherum wäre es genauso wahr. Der Versuch, zu beschreiben, wer wir sind, indem wir über Zukunft und Vergangenheit sprechen, erweist sich als trügerisch.

Ich habe immer mehr den Eindruck, dass auch La Caprias Vision einer verlorenen, unvollendeten Vergangenheit in Wirklichkeit viel mehr einen in der Gegenwart enthaltenen Traum beschreibt als eine tatsächliche Vergangenheit . Das für immer verlorene, schöne Gestern oder Morgen wird zum Filter, durch den wir das Jetzt erleben, den Moment, in dem sich alle Zeiten kreuzen, in dem alle Zeiten enthalten sind und der eigentlich außerhalb der Zeit ist.

Als ich kurz vor Einbruch der Dunkelheit das imposante Castel St. Elmo erreiche, wird die Burg auf einmal von einem Nebel eingehüllt, der alles Licht und alle Geräusche verschluckt. Die Lichter der Straßenlaternen schweben in der grauen Masse wie sehr weit entfernte Sonnen, felsenhaft klotzig sind die Umrisse der Gebäude im Innenhof der Festung. Nicht einmal eine Stimme oder einen Schritt höre ich mehr. Verschwunden sind die Stadt und alle ihre Geräusche. Nur die Zeiger der großen Uhr drehen sich mit einem leisen Sirren immer schneller im Kreis herum.

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