Alle Städte sind auf Ruinen gebaut: Die Schönheit des Verfalls

„Es gibt Sturm und Regen, es gibt Blitze, Wind und nadelfeine Tropfen, dann scheint die Sonne wieder. Die Erde dampft, in den rauschenden Baumkronen lärmen die Vögel und die Wellen rollen langsam auf den Strand zu, um dann in einem Nebel aus Gischt an der Kante zu brechen. Jeden Morgen sieht der Strand anders aus, aber die Schiffe weiter draußen in der Bucht scheinen sich manchmal tagelang nicht von der Stelle zu bewegen. Die Zeit vergeht. Ich fühle mich allmählich genauso leer und ausgewaschen wie das öde Land hinter uns. Ich sitze in den Ruinen der Ressorts – es gibt hier mehr als nur eine, an diesem Strand scheint der ganze Tourismus im Ruin geendet zu sein – und denke: So sieht das aus, was von allen meinen Männerbeziehungen übriggeblieben ist.

Das mag sich deprimierend anhören. Aber ich bin nicht deprimiert. Ich fühle eine ruhige Gewissheit von etwas, was ich immer noch nicht benennen kann. Vielleicht ist es bloß die Gewissheit, dass etwas zu Ende gegangen ist. Aber ich erinnere mich schon nicht mehr genau, was. Und ich spüre auch noch keinen Neuanfang. Mir kommt es vor, als müsse diese Leere einen ganzen Winter lang dauern. Das Meer, die Wolken, Begegnung-Trennung-Wiederannäherung von Wasser und Land, Licht und Dunkelheit, ihm und mir-

Ich will nicht leugnen, dass ich manchmal verzweifelt bin, aber sobald ich auch nur einen Moment lang still werde, kommt es mir vor, als befände sich alles innerhalb eines großen Gleichgewichtes, als läge die Welt so sicher in ihren Angeln wie noch nie.“

26.11.2023, Velika, Griechenland

Vom Streifen durch verlassene Gebäude

Wenn ich ehrlich bin, dann bekommt meine Familie fast nur noch Bilder von Ruinen von mir, seit ich in Neapel gewesen bin. Verfallende neapolitanische Paläste, Schichten von abblätternden Wandmalereien auf rissigen Wänden bis Mitte November. Jetzt: Schilfbewachsene Swimmingpools, monströse Palmengewächse im grünen Licht einer verlassenen Lobby, schimmlige Vorhänge, die den Blick auf das strahlende Blau des Meeres freigeben, Gerüste von nutzlos gewordenen Sonnenschirmen, von denen Salz, Wind und Wasser den Stoff gerissen haben.

Es soll Menschen geben, die an solchen Orten nur Dreck und Schmutz sehen. Andere sehen: Das Potenzial von etwas, was hätte sein können, aber irgendwann nicht mehr gewesen ist.

Also wandere ich durch diese Ruine. Die Balkone betrete ich nicht. Spätestens zum nächsten Winter wird der bröckelige Beton endgültig nachgeben. Ich suche nach Spuren von dem, was geschehen ist. Warum ist niemand mehr da? Wohin sind die Menschen gegangen, die hier ihre Sommer verbracht haben? Ich suche Indizien. Blättere in wellig gewordenen Büchern und durch alte Rechnungen, von denen die letzten aus dem Jahr 2012 stammen, suche mich durch Stapel feuchter Kleidung. Recherchiere im Internet, finde aber nichts mehr.

Und dann kommt eine regnerische Nacht und ein Morgen, der den Schlamm auf dem Boden trocknet und das wilde grüne Gewächs im Garten dampfen lässt. Ich sitze dort in all meinen Jacken und Pullovern und frage mich auf einmal: Suche ich nicht eigentlich vor allem nach Indizien meiner eigenen Vergangenheit?

Der große Riss

Neapel lässt mich immer noch nicht los. Nicht als realer Ort im Süden Italiens, nach dem ich Sehnsucht habe. Aber auch nicht als imaginärer Ort, als Idee, als Art, die Welt zu verstehen. Nach wie vor lese ich Raffaele La Caprias „L’Armonia Perduta“, seine Interpretation der Seele, des Bewusstseins, der Identität seiner Stadt. Aber seit ich hunderte Kilometer von Neapel entfernt bin, hat sich meine Art des Lesens verändert. Vorher, beim morgendlichen Cappuccino an der Piazza Cavour, war ich getrieben von dem Bedürfnis, diese Stadt zu verstehen. Es war beinah, als gäbe es außerhalb von Neapel keine Welt mehr, die zu verstehen sich lohnen würde. Aber jetzt lese ich La Caprias Buch beinah wie eine Parabel. Am Ende hat der Autor mit seinen Gedanken über Neapel vielleicht doch eine Allgemeingültigkeit erreicht, die er nie beabsichtigt hatte.

Wie eine gestürzte Republik im Kannibalismus endete

Beim Warten an der Busstation von Kalamata, auf einem leeren Gepäckwagen sitzend, wird mir endlich klar, wo genau La Capria den „Riss“ in der Geschichte Neapels eigentlich verordnet: 1799, das Jahr der Parthenopäischen Republik. Im 18. Jahrhundert war das damalige Königreich Neapel ein Zentrum der Aufklärung und eine der wichtigsten Kulturstädte Europas. Als die Stadt im Januar 1799 von französischen Truppen erobert wurde, erklärten die neapolitanischen Patrioten das Königreich zur Republik. Die neue demokratische Republik hatte allerdings nur wenige Monate Bestand. Bereits im Februar begann der zum Oberbefehlshaber der königstreuen Truppen ernannte Kardinal Fabrizio Ruffo damit, sich die traditionalistisch-konservative Haltung des Landvolks zu Nutzen zu machen und eine Miliz aus Bauern und Briganten zu organisieren. Die Belagerung durch die Bauernarmee führte schließlich zum Abzug der französischen Truppen im Juni 1799 und zur Kapitulation. In Folge dieser Ereignisse wurde fast die gesamte geistige Elite Neapels gefangengenommen und hingerichtet.

Hier endet der Wikipedia-Artikel: Mit der von oben verordneten Hinrichtungswelle von 1799. La Capria beschreibt in „L’Armonia Perduta“ unter Bezug auf zahlreiche zeitgenössische Quellen aber noch ganz andere Ereignisse. Ihm zufolge führte der Sturz der Parthenopäischen Republik zu einer Anarchie, in der sich die Wut des verelendeten, einfachen Volks von Neapel in einem wahren Gewaltrausch Bahn brach.

In diesem „Bürgerkrieg“ soll nicht nur das gesamte Großbürgertum Neapels umgebracht worden sein. Von ihm zitierte Quellen berichten sogar von Fällen von Kannibalismus, bei denen die gerösteten Leichen in Stücke geschnitten auf den Plätzen verkauft und gegessen wurden.

Wie gesagt: In den entsprechenden Wikipedia-Artikeln werden diese Ereignisse mit keinem Wort erwähnt. Gleichzeitig gilt La Capria weder als Verschwörungstheoretiker noch als besonders kontrovers. Ich gehe deshalb davon aus, dass seine Beschreibungen des Bürgerkriegs keine Behauptung darstellen, die seinen damaligen Lesern unbekannt war und dass dieses traumatische Ereignis in der Geschichte Neapels so oder so ähnlich tatsächlich stattgefunden haben muss.

Geschichte ist immer eine Geschichte des Umgangs mit Ruinen

Was mich hier besonders interessiert, ist auch nicht eine neue Geschichtsschreibung Neapels. Bemerkenswert finde ich, wie dieses Ereignis, dieser Bruch, zum Ausgangspunkt von La Caprias Überlegungen zur neapolitanischen Identität wird.

Sein Buch über die „napoletanità“ ist La Capria zufolge „eine Hypothese, die mit Hilfe von Imagination versucht, wahrer und glaubwürdiger zu werden als die Wahrheit, auch um bestimmte Aspekte (der Wahrheit) hervorzuheben, die sonst übersehen würden“. Immer wieder macht er deutlich, kein Historiker zu sein: Seine Arbeit, auch wenn sie reale Ereignisse beschreibt und sich auf tatsächlich existierende Quellen bezieht, thematisiert vor allem den Raum des Unbewussten und Imaginären. Und in dieser „langsameren und versteckteren“ neapolitanischen Geschichte wird das Trauma von 1799 zum Ausgangspunkt der „napoletanità“. Die damit verbundenen Mythen und Träume, die Veränderung des Dialekts, die Beschwörung einer gemeinsamen Kultur, ungeachtet der verschiedenen sozialen Schichten: In alldem sieht La Capria den Versuch des kleinen Bürgertums, die schrecklichen Ereignisse von 1799 und die daraus entstandene „Angst vor dem Volk“ zu überwinden.

Die These, die er damit aufstellt, ist folgende: Die gesamte neapolitanische Kultur zwischen 1799 und dem Zweiten Weltkrieg – mit allem, was sie einzigartig und faszinierend macht – hat ihren Ursprung in einem Trauma.

Der mitten im Leben sichtbare Tod

Zurück an den Strand von Velika, der immer gleich und doch jeden Morgen anders ist. Mal haben die nächtlichen Stürme eine neue Düne geschaffen, mal liegt am Ufer ein Kieshaufen, der vorher nicht da war. Ich sammle die rosafarbenen und violetten Kiesel und baue daraus kleine Türme und Wege. Ich denke: Müssten nicht eigentlich alle Geschichten bei den Ruinen beginnen? Bei den Rissen? Am Ende sind doch die Ruinen die Substanz, aus der neue Städte gebaut werden. Am Ende sind die Traumen und die Verletzungen die Substanz, aus der ein Leben gebaut wird.

Was, wenn eigentlich jede Geschichte mit einem Riss beginnt?

Mir gefallen Städte nicht, in denen alles glatt und schön hergerichtet ist. Eine schöne Stadt, das ist für mich Neapel. Ein Ort, an dem alle Stadien von Verfall und Wiederaufbau gleichzeitig und am gleichen Platz sichtbar sind wie die Gesteinsschichten in einem Canyon.

Schönheit ist für mich da, wo die Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit des Lebens offengelegt sind. Wo es jenseits von Ästhetik noch etwas Unfassbares, beinah Bedrohliches gibt, wo sich ein Anblick allen Kategorisierungen entzieht. Schönheit, das ist auch: Ein Sonnenstrahl, der von einem zersplitterten, schmutzigen Fenster reflektiert und aufgespalten wird.

Jedes menschliche Gesicht, genau angeschaut, hat in sich diese Form von Widersprüchlichkeit. Und jedes Leben hat in sich eine oder mehrere gestürzte Republiken. Jedes Leben ist geprägt von dem wahnsinnigen kreativen Potenzial, was frei wird bei dem Versuch, Traumata zu überwinden, zu verdrängen, zu verhindern, zu heilen.

Ich schaue die Ruinen an. Ich sehe: Das Potenzial von etwas, was hätte sein können, aber irgendwann nicht mehr gewesen ist.

Ich sehe auch: Das Rohmaterial von etwas, was erst noch sein wird.

Es ist ein friedlicher Ort. Inmitten des Verfalls fühle ich mich eingebunden in die ewigen Kreisläufe des Lebens.

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