Autorin: Monika Widmer
Vor nun fast einem Jahr gab mein Auto seinen Geist auf. Ich musste einsehen, dass ich mir kein Auto mehr leisten kann. Seitdem bin ich mit dem Öffentlichen Nahverkehr unterwegs. Das trägt mir viele mitleidige Kommentare ein, so als sei ich ein wenig behindert. Doch wünsche ich mir das Auto nicht zurück.
Vom Leben ohne Auto
Meine Lebensqualität ist seither eindeutig gestiegen. Ich bewege mich mehr an der frischen Luft. Ich erliege nicht mehr der Versuchung, meinen halben Hausstand einzupacken, wenn ich für zwei Tage wegfahre, habe also Leichtigkeit gewonnen. Auch komme ich in der Regel pünktlich aus dem Haus, renne nicht 10mal zurück, weil ich glaube, etwas vergessen zu haben. Natürlich dauern meine Fahrten in der Regel doppelt so lang wie mit dem Auto, und trotzdem verliere ich keine Zeit – im Gegenteil: Ich finde Zeit zum Lesen wirklich guter Literatur („Narziss und Goldmund“ von Hesse, „Der veruntreute Himmel“ von Werfel und „Die Jüdin von Toledo“ von Feuchtwanger waren die Highlights der letzten Monate…).
Und ja… außerdem büße ich ein Stück meiner Autonomie ein. Das heißt: Ich darf um Hilfe bitten und Hilfe empfangen. Ich mache die Erfahrung, dass Menschen sehr gerne helfen – von den jungen muslimischen Männern, die bereitwillig mein bepacktes Fahrrad die Bahnhofstreppe hinaufschleppen (weil der Aufzug seit Wochen kaputt ist), über den Bürgermeister, der es mir ermöglicht, den verpassten Bus doch noch zu erwischen, bis zu den vielen Menschen, die mir permanent anbieten, mich abzuholen, nach Hause zu bringen oder für mich einzukaufen. (Zum besseren Verständnis: Ich lebe auf dem Dorf ohne ein einziges Geschäft; die Busse verkehren stündlich). Alles alleine zu können verschärft die Separation. Hilfe zu geben und anzunehmen schafft Verbindung.
Ohne das schützende Gehäuse aus Metall und Kunststoff komme ich in Kontakt mit den Niederungen des gesellschaftlichen Lebens, erhalte also wichtige Lektionen in Berührbarkeit. Abstandsregeln im Öffentlichen Nahverkehr gibt es nicht mehr. Die Züge sind immer zu kurz, und da stets einige ausfallen, sind die übrigen oft hochgradig ausgelastet.

Es ist nicht möglich, mir meine Mitreisenden vom Leibe zu halten. Ich lausche ihren Selbstgesprächen (mit und ohne Handy), ich verfolge ihre Aktivitäten auf dem Smartphone (erschreckend; Sprachkurse bilden eine rühmliche Ausnahme); wir können uns gegenseitig riechen oder auch nicht; manchmal sitzen wir einander mehr oder weniger auf dem Schoß. Auf Zugtoiletten lässt sich außerdem bestens das Immunsystem trainieren.
Junge Männer mit Kapuze
In schockierendem Gegensatz dazu steht das Ausmaß an Isolation und Resignation, das sich derzeit unter meinen Mitmenschen breitzumachen scheint. Die jungen Männer, schwarz gewandet, tief gebeugt, die Kapuze ins Gesicht gezogen, den Kopf auf der Lehne des Vordersitzes abstützend, auf das Handy im Schoß starrend, sind hierfür nur ein Extrembeispiel. Im Hier und Jetzt scheint sich fast niemand mehr aufzuhalten; die meisten sind in virtuelle Realitäten versunken. Und steckt das Handy doch im Hosensack, gehen die Augen ins Leere. Manchmal bin ich stundenlang unterwegs ohne eine einzige Gelegenheit zum Blickkontakt. In Ruhe kann ich einem „Laster“ nachgehen, für das mein Sohn mich schon öfter kritisierte: Ich studiere die Gesichter und Körper der Menschen mit der stummen Frage: Wer bist du? Wie gehst du durch dein Leben?
Die Betroffenen merken in der Regel nicht das Geringste. Sie prägen sich mir ein – manchmal für Tage und Wochen – und haben mich umgekehrt nicht einmal wahrgenommen. Das hat etwas Gespenstisches genauso wie die Tatsache, dass kurzfristige Zugausfälle oder wirklich gute Witze der Lokführer keinerlei sichtbare Gemütsbewegung verursachen.
Gelächelt und wohl auch geweint wird vor allem mit dem Handy.
Wie belebend, wenn doch ein Lächeln zwischen zwei Menschen hin- und herfliegt! Wenn die Ödnis durchbrochen wird von kreischenden Kindern, von eindrucksvollen Begegnungen: Kürzlich war der Bus voller aufgeregter Vorschulkinder. Die Sitzplätze für die Erwachsenen waren rar. Ein von seinem Schicksal sichtlich gezeichneter Mann in rosa Plüschjacke und Mütze mit Ohrenklappen stieg zu. Ich hielt ihn für einen Greis und bot ihm meinen Platz an. Er entgegnete, es ginge gegen seine Ehre, einer Dame den Platz wegzunehmen, und fügte nach einer Weile listig hinzu, er sei außerdem wahrscheinlich wesentlich jünger als ich. Und tatsächlich – der Altersunterschied betrug acht Jahre!
„Wo ist dein Hund, Samantha?“
Ein andermal stellte ich schon beim Einsteigen in den Bus fest, dass die Fahrt nicht sonderlich gemütlich werden dürfte. Eine stark alkoholisierte, dabei sorgfältig gestylte osteuropäische Dame hielt Grundsatzreden, sprach über die Männer in ihrem Leben und stellte den Mitfahrenden so persönliche Fragen, dass ich annahm, sie sei mit allen bekannt. „Samantha, wo ist dein Hund?“ erkundigte sie sich mehrfach eindringlich. Das angesprochene Schulmädchen antwortete motzig, sie ginge gleich mit ihm Gassi. Worauf sie sich anhören musste, es sei ganz und gar nicht zu verantworten, einen Hund dermaßen lange alleine zu lassen. Als ein junger Mann im unvermeidlich Kapuzenpulli an der Haltestelle auftauchte, begann die Dame die Jugend lauthals zu lobpreisen: „Die Jugend ist die Zukunft. Die Jugend ist die Stimme des Volkes. Die Jugend ist der schönste Klang. Die Jugend entscheidet. Versteckt nicht euer Gesicht unter Kapuzen.“ Im Stillen gab ich ihr recht.
Kurz darauf zündete sie sich eine Zigarette an. Der Fahrer stoppte und verkündete, die Reise erst fortzusetzen, wenn sie mit dem Rauchen aufhörte. Daraufhin fiel sie ihm um den Hals. Wenig später auch mir. Sie machte mir leidenschaftliche Liebeserklärungen, streichelte mich, und wir erzählten einander aus unserem Leben. Sehr viel Berührung in einem Feld, in der jede Art von Kontakt normalerweise vermieden wird. Ich war fasziniert und spürte zugleich die Notwendigkeit, für meine Grenzen zu sorgen. Meine Appelle, mir mehr Raum zulassen, fruchteten leider nicht länger als 30 Sekunden. Ich musste deutlicher werden und die wirklich unangenehme Whisky-Fahne zur Sprache bringen. Erschütternd, wie schnell ich diesmal verstanden wurde. Todtraurig setzte sich meine Freundin auf den Boden. Und ich… hätte ihr eigentlich Gesellschaft leisten sollen statt auf meinem hohen Ross zu verharren. Da gibt es für mich noch Einiges zu lernen.
Die stille Rebellion gegen die Entmenschlichung
Nicht zu vergessen die Busfahrer, die sich anscheinend zu einer stillschweigenden Rebellion verschworen haben. Sie werden meines Erachtens behandelt wie nützliche Idioten, haben den Anweisungen auf dem Display zu folgen, egal ob sie diese verstehen oder nicht. Entsprechend können sie auf Fragen der Fahrgäste, die über diesen engen Horizont hinausgehen, keine Antwort geben, zumal sie in den meisten Fällen nur über rudimentäre Deutschkenntnisse verfügen. So weigern sie sich, den Fahrscheinen überhaupt Aufmerksamkeit zu schenken. Seit Monaten werde ich beim Einsteigen nur durchgewunken.
Dies ist jedoch nur möglich, weil ich mit den Menschen am Steuer in Blickkontakt gehe… die meisten meiner Mitreisenden marschieren mit gezücktem Handy an den Fahrern vorbei… auch eine Art, sich selbst und den Anderen zu entwürdigen. Es ist gar nicht so einfach, diesen Sog der Entmenschlichung, die im öffentlichen Nahverkehr vielleicht unmittelbarer zu beobachten ist als anderswo, zu widerstehen, mich nicht selber abzuschotten. Und zugleich finde ich hier ein unschätzbares Übungsfeld, um meine Wachheit, meine Autonomie, mein Mitgefühl und meine Flexibilität zu entwickeln.
Selbstbestimmung und Freiheit hängen nicht von dem Gefährt ab, dass wir benutzen.
Beides wird aus uns selbst heraus geboren, und die Lebensumstände, die wir wählen (oder in die wir hineingeworfen werden), dienen dazu, diese Qualitäten immer klarer und strahlender an den Tag zu bringen. Sie gehören essentiell zu unserem Menschsein.
Monika Widmer ist selbstständige Kunsttherapeutin in Landau in der Pfalz. Ihre Mission ist es, Menschen darin zu begleiten, den Zugang zu ihrem schöpferischen Potenzial zu finden. Der Artikel in diesem Blog erschien zuerst auf ihrem Telegram-Kanal, auf dem sie regelmäßig ihre Gedanken rund um Heilung und gesellschaftliche Transformation teilt.

Bildquellen: Wassily Kandinsky (1866 -1944), Zug in Murnau; Gabriele Münter (1877 – 1962), Marianne Werefkin.


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