Warum es verboten ist, sich aus dem Fenster zu lehnen und unsere Gedanken nicht uns gehören

Ich sitze im Regionalexpress von Stuttgart nach Karlsruhe, Rückfahrt nach einer viertägigen Promotiontour für einen großen Mobilfunkanbieter. Die Arbeitskleidung habe ich in einer schwarzen Tasche verstaut; ich bin wieder nur ich. Ich sitze und lese ein Buch mit dem Titel „Kollektives Trauma heilen“. Der Mann auf der anderen Seite des Ganges liest auch. Sein Buch heißt: „Ego is the enemy“.

Der Zug füllt sich, manche sitzen schon auf dem Boden im Gang, mir gegenüber nimmt eine alte Frau Platz. „Früher waren die Züge nie so voll“, sagt sie. Ich nicke und antworte mit einem beliebigen Zugerlebnis, allgemeingültige Grußformel zwischen den Reisenden, die es nicht vermeiden können oder wollen, einander zu bemerken.

Es ist Sonntag. Ein friedlicher Tag. Sogar am Stuttgarter Bahnhof war es irgendwie friedlicher als sonst. Ich habe ein paar Momente gebraucht, um zu bemerken, wieso: Irgendjemand hatte die Spalier stehenden, menschengroßen Bildschirme ausgeschaltet. Keine Bilder von Erdmännchen im Wechsel mit Nachrichten über Kindesmissbrauch mehr, kein pulsierender, penetranter Grusel, der den Blick anzieht und das Bewusstsein aus dem Körper hinaus. Die ganze Atmosphäre hatte sich völlig verändert.

Der Krieg, den wir denken können

Ich bemerke die Unruhe der Frau mir gegenüber, lege mein Buch weg und warte ruhig, was passiert. Sie fängt bald an, mit mir zu sprechen und erzählt mir davon, wie es war, nach Kanada auszuwandern. Wie freundlich die Menschen dort sind. Anders als in Deutschland, sagt sie. Warum?, frage ich, was ist anders? Sie schaut mich an, ein wenig verblüfft, als habe noch nie jemand so genau nachgefragt oder als wäre das eine Selbstverständlichkeit. „Die Menschen hier“, sagt sie schließlich, „haben so eine Wut.“

Ich will über die Wut sprechen, aber dann sprechen wir über den Krieg. Der böse, russische Diktator, die zögerliche, deutsche Regierung, das Leid der armen Ukrainer. Eines der Narrative, die Menschen verwenden, um über politische Entwicklungen zu sprechen, als hätten die nichts mit ihnen zu tun.

Ich höre immer noch zu. Heute spüre ich keine Empörung über diese Vereinfachung. Heute bin ich bloß ein Raum, in den sie hineinspricht. Umso länger ich so zuhöre, nur gelegentlich nachfrage oder einen Impuls setze, umso verbundener fühle ich mich mit ihr. Nach einer Weile beginnt sie, auf unerwartete Weise auf meine Impulse zu reagieren. Jedes Mal, wenn ich etwas sage, findet sie etwas in ihrer eigenen Wahrnehmung, was das bekräftigt oder unterstützt, selbst dann, wenn es in völligem Widerspruch zu ihrem vorherigen Statement steht.

Auf einmal spricht sie nicht mehr über den bösen Putin, sondern über die Männer, Russen und Ukrainer, die in diesen Krieg zum Sterben geschickt werden. Meine Augen werden feucht und ihre auch. Und dann kommt es aus ihrem tiefsten Inneren: „Ich WILL einfach keinen Krieg mehr!“

In diesem Moment fährt der Zug in den Karlsruher Bahnhof ein. Keine von uns hat gemerkt, wie die Zeit vergangen ist. Wir verabschieden uns zwischen hektisch zusammenpackenden Menschen. Ich gehe mit klopfendem Herzen zu meinem nächsten Gleis. Kann es sein, dass wir, wenn wir nicht wach sind, permanent die Gedanken des Feldes denken, in dem wir uns befinden? Gedanken, die gar nicht uns gehören? Kann es sein, dass der Raum der Präsenz, den ich geschaffen habe, ihr überhaupt erst ermöglicht hat, in Kontakt mit ihren eigenen Erfahrungen und dem darunterliegenden Schmerz und der Angst zu kommen? Oder ist es so, dass ein Mensch, der die Gedanken des Kollektivs denkt, einfach anfängt, meine Gedanken zu denken, wenn meine Energie momentweise stärker ist als die Energie des Raumes?

Eines steht fest: Wenn ich präsent bin, wenn ich ganz da bin, meinen Fokus nur auf den jetzigen Augenblick halte – dann verändere ich den Raum, in dem ich mich befinde.

Über menschliche Kugeln und die Kraft, ein Begehren zu wecken

Drei Tage vorher stehe ich vor einem Laden in Rosenheim und bewerbe ein Gewinnspiel. Meine Aufgabe ist es, Passanten anzusprechen. Ein Begehren zu wecken. Es ist, als wäre das Angebot, das ich habe – dieses Spiel zu spielen, dieses neue Handy zu wollen – wie ein Wegweiser, den ich Menschen hinwerfe. Ein Angebot, ihre Richtung zu verändern. Ihren Fokus zu mir umzulenken, hinein in eine Interaktion, die sie einen Moment vorher nicht im Sinn hatten.

Es ist ein sonniger, ungewöhnlich warmer Tag. Menschen rollen wie Kugeln an mir vorbei, auf dem Weg irgendwohin. Aber es sind Kugeln mit Löchern und dorthinein werfe ich meine Begrüßung, ziehe sie in meine Richtung. Manchmal ist mein Fokus stärker als ihrer. Manchmal docke ich an und löse Freude aus oder Neugier.

Aber es gibt auch Menschen, die kann ich nicht ansprechen. Meine Entscheidung fällt in Sekunden. Intuitiv. Es gibt Menschen, deren eigene Energie ist so stark, dass der vergleichsweise schwache Impuls dieses Spiels nie eine Chance hätte. Es gibt einige wenige Menschen, deren Fokus ist so bewusst, dass ich nie eine Bereitschaft für Begegnung herstellen könnte, wenn sie nicht vorher schon vorhanden ist.

Ich spreche einen jungen Mann in einem teuren Anzug an. Er schaut mich neugierig an, lässt sich die Funktionen des Handys von mir erklären. Dann fragt er: „Aber findest du das wirklich gut?“ All die Gedanken, die ich mir heimlich mache – all die Gründe, warum ich in diesem Job nicht so gut bin, wie ich sein könnte – alles will gleichzeitig aus mir heraus. Aber all das Vorgefertigte stockt in mir. Denn dieser Mann hat klare, blaue Augen und etwas in seinem Gesicht, etwas wie ein schmerzlicher Zug um den Mund herum, verrät mir, dass er Zugang zu einer Art der Wahrnehmung hat, die Welten entfernt ist von der meiner anderen Kunden. Ich will ihn fragen, wieso. Ich will ihn sehr, sehr viele Dinge fragen. Aber in diesem Moment wird bei einer der Mitarbeiterinnen ein Platz frei und wie ferngesteuert leite ich ihn weiter. Tue das, was meine Aufgabe ist. Später muss er schnell weiter und weiß nicht, dass ich noch den halben Tag über ihn nachdenke. Ich bin. Ich bin. Ich bin das Feld, was ich verkörpere. Und kaum etwas mehr in diesem Moment.

Die Bedrohung eines Telefonvertrages

Nächster Tag, nächste Stadt: Regensburg. Hier sind die Menschen wieder ganz anders. Die meisten Menschen sind einfach so wie der Ort, an dem sie sich befinden. Ich denke: Sie machen sich nicht bewusst, von welchem Kollektiv sie Teil sind. Und eben weil sie sich darüber nicht bewusst sind, ist der größte Teil ihres Verhaltens Ausdruck eines Musters, das ihnen nicht gehört und kaum in ihrer Kontrolle liegt.

Hier haben die Menschen mehr Angst. Manche heben die Hände vors Gesicht, wenn ich sie anspreche, als erwarteten sie einen Schlag ins Gesicht. Oder als würden sie denken, dass sie, kaum haben sie zwei Minuten mit mir gesprochen, einen Telefonvertrag in der Tasche haben, den sie nicht wollten. Es ist irrational, aber: Ihre Angst ist körperlich spürbar, bis in meine eigenen Zellen hinein.

Die meisten Menschen sind einfach so, wie der Ort, an dem sie sich befinden.

Und niemand hat so viel Angst wie die Frauen meines Alters. Ich werde mir bewusst, dass es in mir ein wenig Überheblichkeit gibt, etwas, was nicht wahrhaben will, wie sehr auch ich – als junge Frau – in permanenter Erwartung einer Gefahr lebe. Jetzt sehe ich es: In den abgewandten, maskenhaft geschminkten Gesichtern, dem ängstlichen Lächeln, den nervösen Neins und an der Art, wie sie danach ihren Schritt beschleunigen. Die Welt ist ein tendenziell bedrohlicher Ort. Jedes Einlassen mit etwas Fremden könnte bestraft werden.

Diese Arbeit ist nicht die ideale Lösung, sage ich zu mir selbst. Nur die Beste, die ich bis jetzt gefunden habe.

Die Schönheit von Fenstern in fremden Zimmern

Aber am Abend sitze ich in Erlangen in meinem Hotelzimmer – ein kleines, altes Hotel direkt am Bahnhof – und lese den laminierten Zettel mit den Hausregeln. Die englische Version, wohl aus einer Zeit stammend, als digitale Übersetzer noch nicht gut genug waren, um menschliches Unvermögen zu verschleiern, bringt mich zum Lachen. „Failure to comply with the night’s sleep can lead to immediate dismissal”. Ob ich wohl aus diesem Hotel hinausgeworfen werde, wenn ich schlecht schlafe? Wird morgen am Eingang zum Frühstücksraum der Grad meiner Erschöpfung kontrolliert?

Ich lese auch, dass es aus Sicherheitsgründen verboten ist, sich aus dem Fenster zu lehnen und das Fensterbrett als Sitzgelegenheit zu verwenden. Lese es und fühle Sympathie für all die Unbekannten, die so wie ich gleich nach ihrer Ankunft einen Stuhl unter das Fenster gestellt haben und auf das Sims geklettert sind, um das Ankommen und Abfahren der Züge zu beobachten, den Ansagen vom Bahnsteig zuzuhören und sich die kühle Luft um die Nase wehen zu lassen.

Die Mondsichel liegt hell am Himmel, eine vollendete, silberne Schale. Dieselbe Mondsichel, die ich schon am Abend zuvor gesehen habe, in Regensburg, in einem dieser einsamen Hotels im Gewerbegebiet, in denen nur Durchreisende übernachten. Dieselbe Mondsichel habe ich gesehen, sonst vor dem Fenster nichts, an dem der Blick hängenbleiben könnte, die reine Öde des aufs Funktionale reduzierten menschlichen Lebens, die zivilisatorische Regression auf den Nullpunkt der Bedeutungslosigkeit, und morgens sitze ich alleine beim Frühstück und denke beim Schauen an Dinge, die so bedeutungslos sind, dass ich beinah behaupten könnte, ich hätte einen meditativen Zustand des Nicht-Denkens erreicht. .

Nichts von alldem hat eine Bedeutung. Es ist ziellose, in sich selbst verfangene Lebendigkeit. Aber manchmal ist das genug für mich. Ich bin leicht glücklich zu machen.

Nazis, Dämonen und lächelnde Pferde

Am Samstagabend in Erlangen ist die Arbeit getan und ich habe jetzt genug Geld, um mich die nächsten zwei Monate nicht mehr damit zu beschäftigen. Ich gehe alleine in die Kneipe nebenan und trinke ein Bier. Natürlich bin ich nur für ungefähr zwei Sekunden alleine. Neben mir versucht ein Mann, das Loch in meiner Kugel zu finden. Mir etwas anzubieten, was ich begehren könnte. „Das geht nicht“, sage ich. „Ich bin wahrscheinlich der glücklichste Mensch in dieser Bar. Ich bin wie jemand, der auf einem Hügel aus Gold sitzt. Was willst du mir jetzt noch schenken?“

Ich lasse mir erzählen, warum ein Schachspiel ein Freundschaftsbeweis ist, ich gebe eine Stilberatung, ich werfe mit Bierdeckeln. Ich frage: Warum? Sehr, sehr oft an diesem Abend. So oft, dass zwei Altlinke böse auf mich werden und mir unterstellen, ich sei ein Nazi. Ich schaue in ein fremdes, versehrtes Gesicht, blau in dem Licht, das durch das Fenster nach draußen auf die Straße fällt. Wir rauchen. Der Mann erzählt mir von Bali. „Die Menschen dort leben mit Geistern und Dämonen“, sagt er, „es gehört einfach zu ihrer Lebensrealität.“

„Hast du dort mal einen Dämon gesehen?“, frage ich. „Nein, ich nicht“, sagt er. Und dann – diese Worte scheinen sich wie durch eine dicke Schicht aus Watte nach oben zu kämpfen: „Aber manchmal habe ich es gefühlt.“

Gegen zwei, als ich gerade dabei bin, zu gehen, kommt einer der Altlinken zu mir und sagt: „Du lächelst wie ein Pferd.“ Dann zieht er die Oberlippe hoch, um mein Lächeln nachzuahmen. Ich komme in dem Moment nicht mal auf die Idee, mich zu ärgern – zu skurril und unbeholfen ist dieser Angriff. Ich lache bloß und verabschiede mich. Aber bevor ich gehe, nimmt mich ein Ire, der danebenstand, beiseite. „You’re smart as hell“, sagt er, „and your smile is gorgeous by the way.”

Der Hungergedanke

Daran muss ich am nächsten Tag noch denken. Dieser simple Akt der Freundlichkeit. Die Art, wie Menschen sich für andere Menschen verantwortlich fühlen. So wie der Filialleiter im Laden in Rosenheim, den ich dabei beobachtet habe, wie er mit einer alten Frau gesprochen hat. „Ich verstehe dieses Smartphone nicht“, sagte die Frau, sie drehte es in den Händen hin und her, „ich bin zu dumm dafür.“ „Sie sind nicht dumm“, sagte der Filialleiter mit Entschiedenheit und Wärme, „Sie lernen nur etwas Neues.“

Später am Tag erklärt er mir, er habe das ganze Team in seinem Laden vor ein paar Monaten ausgewechselt. „Warum?“, frage ich. „Die haben sich keine Mühe mehr gegeben“, sagt er, „die waren nicht mehr hungrig.“

Hunger, denke ich später. Hunger nach Geld. Aber ich habe genau gesehen, wie er die hereinkommenden Kunden anlächelt. Wie er sich mit seinen Mitarbeiterinnen über ihre Erfolge freut und mit den älteren Menschen niemals ungeduldig wird. Hunger ist nicht das richtige Wort.

Hunger ist nicht die Grundlage für sein Verhalten. Hunger ist das, was die Verkaufscoaches und Bereichsleiter von ihm fordern. Hunger ist nicht sein Gefühl, sondern das Gefühl des Unternehmens, für das er arbeitet.

Aber wenn er weit weg wäre und still und dieses Wort in diesem Kontext akzeptabel wäre, dann würde er vielleicht sagen: Liebe.

Die simple, grundlose, unpersönliche Liebe, die Menschen für andere Menschen fühlen, einfach, weil beide Menschen sind.

Eine Antwort zu „Warum es verboten ist, sich aus dem Fenster zu lehnen und unsere Gedanken nicht uns gehören”.

  1. wow….ich bin berührt von der Wachheit und Vielschichtigkeit aus der die Autorin ihre Worte schöpft.

    Zugleich öffnet sich mein Herz und ich spüre tiefe Resonanz und Verbundenheit mit dem Geschriebenen. So entsteht Glück und Frieden und eine Lust in der nächsten Begegnung wach zu sein.

    Danke Marleen ❣️

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