Ich bin ein Niemand, denke ich. Ich treibe in einem Fluss aus Menschen durch die stickigen Hallen der Leipziger Buchmesse. Niemand schaut mir in die Augen. Ich bin ein Niemand, denke ich. Es ist das eine, in einer Erlanger Kneipe cool zu sein. Aber hier bin ich ein Niemand.
Meine Vorstellung ist: Ich komme dorthin, mit meiner ganzen Energie und Inspiration, und gehe in Resonanz. In Begegnung. Ich knüpfe Kontakte. Ich führe inspirierende Gespräche. Ich finde einen Verlag für mein Buch. Meine Realität am ersten Messetag sieht eher so aus: Ich verlaufe mich endlos in den Hallen und stehe permanent für Kaffee oder Toilette an. Ich bin quasi pausenlos damit beschäftigt, mir selbst zu erzählen, warum meine Arbeit ungenügend ist und ich das, was die anderen machen, sowieso doof finde.
Die Gefühle, die wir alle nicht haben wollen
Am Abend sende ich eine Sprachnachricht an meinen Partner. Er antwortet direkt. Ich fühle dich, sagt er. Und: Bist du sicher, dass das alles deine eigenen Gefühle sind?
In diesem Moment realisiere ich schlagartig: Er hat Recht. Ich bin mit diesen Gefühlen nicht allein. Ich bin doch sicher nicht die einzige, die das fühlt: Stress. Druck. Mangel. Eifersucht auf die, deren Stimmen vom Literaturbetrieb als relevanter erachtet werden als die eigene.
Es sind meine eigenen Gefühle, ja. Aber sie werden von dem Feld, in dem ich gerade bin, um das Zehnfache verstärkt.
Sie sind mein Anteil am kollektiven Schatten der Literaturszene. Die Gefühle, die wir alle nicht haben wollen. Es sind Gedanken, die ich als Individuum habe, aber eben auch die Gedanken des Kollektivs. In einem Feld wie der Leipziger Buchmesse, in dem Gefühle wie Unsichtbarkeit und Mangel omnipräsent sind, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass ich das Selbe fühle – einfach, weil ich von meinem Umfeld permanent unbewusste Impulse in diese Richtung aufnehme. Statt mir den Kopf zu zerbrechen, warum ich mich plötzlich wieder so fühle (ich war damit doch längst schon weiter?) kann ich meine Energie also auch darauf verwenden, zu fühlen, was hier wirklich präsent ist. Und wo das bei mir andockt.
Das Recht auf Langeweile
Am zweiten Tag bin ich entspannter. Abends gehe ich zu Fuß die knappe Stunde vom Hauptbahnhof zu der WG, in der ich untergekommen bin. Die Tramfahrer streiken. Das ist normal geworden in Deutschland. Da fühle ich mich auf einmal lebendig: Die regenfeuchte, aber nicht kalte Luft, blühende Büsche, ein verschwommener Mond.
Ich bin früher von einer Veranstaltung abgehauen, weil sie tödlich langweilig war. Leider war es die Veranstaltung eines Verlages, dem ich vor einem Monat mein Manuskript geschickt habe.

Egal. Ich nehme mir jetzt das Recht, mich zu langweilen. Anzuerkennen, dass ich zu einem Großteil der Menschen dort keine Verbindung fühle, obwohl ich denke, ich sollte. Ich lasse es jetzt zu, mich unsichtbar zu fühlen. Ich gestehe es mir überhaupt zu, dass nicht ich falsch bin oder die anderen, sondern dass da schlicht und ergreifend etwas nicht zusammenzupassen scheint, auch wenn das natürlich kein angenehmer Gedanke ist. Weil WO kann ich denn hin mit meiner Energie, wo werde ich gebraucht, oder ist vielleicht der Zeitpunkt falsch? Warum fühle ich mich bei den Balkanautoren so viel wohler als bei den deutschen Verlagen, bei denen ich eigentlich abhängen sollte? Alles wirklich keine vielversprechenden Zeichen für meine Schriftstellerkarriere. Und ich habe keine Lust mehr, das alles so ernst zu nehmen. Ich sehe mich morgen barfuß über diese Messe gehen, ausgeschlossen ist es jedenfalls nicht.
Ein Wald mit beweglichen Bäumen
Messesamstag, und ich nehme jetzt so viel klarer war. Auch wenn es zum barfuß gehen zu kalt ist und der Regen in Strömen an der Außenseite der Glashalle herabläuft. Ein Trubel von Leuten, die ihren eigenen Körper nicht spüren, die dissoziieren in der Menge, nicht mehr richtig wahrnehmen, was um sie herum vorgeht. Dazwischen wie eigene kleine Planeten diejenigen Schreibenden, die angekommen sind, eins mit dem, was sie sagen wollen und sicher darin, damit gehört zu werden. Sie sind selten und auffällig. Alles vermischt sich: Berge von Büchern, in denen Menschen über die Generation ihrer Großeltern schreiben. Ihre eigene Vergangenheit zurückfordern. Eine Übersetzerin, die sagt: „Der Krieg nimmt den Menschen die Individualität.“ Der riesige Correctiv-Stand, über dem in großen, bunten Buchstaben steht: „AFD kacké“. Autoren, die mit ihren ausgedruckten Manuskripten verzweifelt Verleger nerven, vor allem deshalb, weil sie die kollektive Verzweiflung des Nicht-Gehört-Werdens verkörpern.
Ich habe mich am ersten Tag im kollektiven Schatten verfangen. Ich habe dem Fühlen dieses Schattens am zweiten Tag Raum gegeben. Am dritten Tag bin ich so weit, dass ich das Feld als Ganzes wahrnehme, statt mich permanent mit mir selbst zu beschäftigen. Langsam wandere ich zwischen den Menschen umher wie durch einen Wald mit beweglichen Bäumen.
Kistenweise Champagner
Ich bin nicht Niemand. Ich bin nicht Jemand. Himmel, wie wir hier alle versuchen, jemand zu sein. Als ginge es beim Schreiben darum, ein veröffentlichter Autor zu sein und nicht um das Werk. Als ginge es in der Kunst um uns selbst. Als ginge es darum, mir zu beweisen, dass ich als Mensch genüge. Ich bin Niemand, aber das ist völlig egal, denn ich schreibe aus einer Notwendigkeit heraus, die sowieso grösser ist als meine eigene Person. Eigentlich gilt das wohl für die meisten Künstler. Und es ist das, genau das, zu dem wir durch Stress, Dissoziation und endlose Beschäftigung mit unserem eigenen Selbstwert die Verbindung verlieren oder gar nie finden.
Es geht überhaupt nicht um mich, denke ich. Paradoxerweise ist es genau dieser Gedanke, der meine Unsichtbarkeit und Verbindungslosigkeit beendet.
Einen halben Vormittag lang sitze ich am Stand eines kleinen Berliner Verlages und unterhalte mich mit den Menschen, die dort die Bücher verkaufen. Schöne, robuste Bücher mit dickem Papier, die ich in meinem Rucksack herumschleppen könnte, ohne dass sie kaputtgehen. Anton, ein Journalist aus Berlin, macht Kaffee für mich und seine Kollegin. „Diese ganze Prekarität hier“, sagt er, „geht mir so auf die Nerven. Ich will richtig, richtig reich sein. Weißt du, was ich dann machen würde? Ich würde kistenweise Champagner bestellen und den an alle Stände der Buchmesse ausliefern. Alle sollen sich betrinken, es soll ein rauschendes Fest geben und dann wird hier alles kaputtgeschlagen. Das glamouröse Ende der deutschen Literaturszene. Ich will, dass einmal keiner mehr Mangel fühlt.“
„Ja Mann!“, sage ich, „ja! Das ist doch alles viel zu steif hier!“
Poesie der Unzugehörigkeit
Irgendwann gehe ich doch. Zurück an den Balkan-Stand. Hier finden die Lesungen statt, die mich so richtig wach machen, hier habe ich seit dem ersten Tag Gespräche, die mich tatsächlich interessieren – zum Beispiel mit der albanischen Schriftstellerin Rita Petro, deren explizit erotischer Gedichtband „Vrima“ (Das Loch) in Albanien gerade für einen kleinen Skandal gesorgt hat.
Am Samstagnachmittag findet eine Lyriklesung mit den mazedonischen Schriftstellern Nikola Madzirov und Ivana Jovanovska statt. Ich sitze am Rand auf dem Boden, höre zu und weine ein bisschen. Ich will aufspringen, auf die Bühne laufen und mich zu ihnen setzen, will es so sehr, wie ich als Kind ans Meer gewollt habe, so, dass es wehtut in der Brust. Da ist etwas in der Farbigkeit ihrer Bilder: Farben, die ich verstehe, aber im deutschen Sprachbewusstsein kaum denken kann. „Die Lyrik ist die Sprache der Nomaden“, sagt Nikola. „Sie ist die Suche nach einem Zuhause, das man schon am nächsten Tag wieder verlassen wird.“
Als ich nachher mit Ivana rede, wirkt sie aufgelöst und unkonzentriert. Sie spricht wild durcheinander, bedankt sich zehnmal und umarmt mich. Nikola steht noch am Rand und als ich auf ihn zugehe, lacht er mich an und legt mir eine Hand auf die Schulter, als würden wir uns schon lange kennen. Ich rede wildes, sinnloses Zeug. Er fragt, ob ich zur Balkanparty nach Connewitz käme und als ich „nein“ sage, drückt er mir schon im Gehen sein Handy in die Hand. „Speicher dich ein, ich würde wirklich gerne ein Gedicht von dir lesen.“
Ich gehe nach draußen, rauche eine Zigarette und schicke mal wieder eine Sprachnachricht an Mark. „Warum bin ich in Deutschland geboren?“, rufe ich. „Was ergibt das für einen Sinn? Warum bin ich an eine Sprache gebunden, zu deren Menschen ich so viel schwerer Zugang finde?“
Sekt und Klimakatastrophe
Danach sitze ich fast eine Stunde lang mit geschlossenen Augen in einer Ecke und esse sehr langsam einen Hotdog, bis ich mich wieder ein bisschen normaler fühle. Während ich dann Richtung Balkan wandere, spricht mich ein Mädchen an, um mir einen schreiend bunten Flyer zu geben und mich davor zu warnen, dass die Klimakatastrophe kurz bevorsteht. Ich soll deshalb ein Buch kaufen und würde dazu eine Flasche Sekt geschenkt bekommen, vielleicht, um mir das Leben nach der Lektüre wieder schön zu trinken.
Sie spricht eindringlich, als müsse, was sie sagt, ein Gefühl in mir auslösen. Ich fühle gar nichts. Ich weiß, dass auch sie nichts fühlt. Ich weiß, dass wir alle so viel weniger fühlen als wir könnten. Aber jetzt kommen mir all die Gedanken, die ich mir am ersten Messetag gemacht habe, so blöd vor.
Ich habe einfach keine Lust mehr, mich anzustrengen und Dinge zu tun, die keinen Spaß machen. Ich habe Zeit. Ich kann fünf Jahre warten oder zehn, einen Roman oder zwei oder drei. Wenn das, was ich tue, wirklich wichtig ist für die Welt, dann wird es seinen Weg schon finden, wie ein Fluss, der talabwärts fließt.
Das Gefühl von Mangel beendet meine Synchronizität mit der Zeit. Ich habe Angst, nicht genug Zeit zu haben, in meinem eigenen kleinen Leben, das als Gefäß für ein künstlerisches Werk sowieso zu klein ist.

In dem Moment, in dem ich jenseits des Mangels bin, ist meine eigene Wichtigkeit oder Unsichtbarkeit keine relevante Frage mehr.
Eine Taube, die singen gelernt hat
Und es ist okay. Es ist okay, dass ich diesem Schatten wieder und wieder und wieder begegnen werde. Es ist okay, dass ich verdammt Angst habe. Es ist okay, dass ich manchmal eifersüchtig bin. Ich werde noch viele Zigaretten rauchen, um mit dem Zittern aufzuhören. Ich werde noch viel wildes, sinnloses Zeug reden. Wir hätten alle noch viel mehr Spaß und bessere Partys auf der Buchmesse, wenn wir kollektiv okay damit wären.
Dann ist es Abend und die Buchmesse ist für mich vorbei. Aber die Nacht zum Glück noch lange nicht. In der Morgendämmerung wandere ich mit Anton sehr langsam durch die Stadt. Die breiten Straßen liegen still im blauen Licht und Anton sagt, noch nie hat er so sehr wahrgenommen, wie schön Leipzig ist. Ein Vogel singt. „Glaubst du, es ist eine Nachtigall?“, frage ich.
Er sagt: „Puh… Keine Ahnung.“
„Aber da müssen wir doch drauf kommen… Warte, wie ist das bei Romeo und Julia? Die Lerche ists und nicht die Nachtigall?“ Wir gehen und alles ist wie verzaubert. „Vielleicht ist es also eine Lerche“, sagte ich, „aber irgendwie scheint mir die Idee von einer Lerche nicht richtig nach Leipzig zu passen.“
„Vielleicht ist es auch eine Taube“, sagt Anton. „Eine Taube, die singen gelernt hat.“


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