Tirana ist im Aufbruch. Die Menschen und die Cafés werden immer schicker. Überall wachsen die verrücktesten, buntesten Hochhäuser Europas gen Himmel. Ich erinnere mich noch gut, wie ich 2021 das erste Mal in Albanien war. Damals waren die Straßen aufgerissen, überall Baustellen, die Stadt lag unter einer erstickenden Glocke aus weißem Staub. Ich weiß noch, wie wohltuend es für mich damals war, dass hier nichts anonym ist. Die Art, wie Menschen einander bemerken, einander anlächeln, sich Dinge zurufen. Ein frappierender Kontrast zum Covid-Deutschland dieser Zeit. Die Freundlichkeit der Menschen hier ist jetzt weniger überlebensnotwendig für mich als sie es damals war, aber immer noch merke ich, wie sich etwas in mir entspannt, ich mich leichter, freier und kontaktfreudiger fühle.
Der Rest von Europa
Es ist warm. Über 25 Grad schon. Die Sonne brennt uns auf Köpfe und Schultern, während wir mit einer Gruppe Touristen und unserer Stadtführerin mit dem schönen Namen Antigona über den strahlend weißen Skanderberg-Square wandern. Sie ist nicht älter als ich. Die Geschichte, die sie uns über die Zeit des Kommunismus erzählt, ist eine gelernte Geschichte. Ein Narrativ, das nach dem Zweiten Weltkrieg beginnt und 1991 mit der Öffnung der Grenzen endet.
Ich versuche, sie nach der Zeit danach zu fragen – dem Thema des Romans, den ich schreiben will -, aber sie schwenkt in ihren Antworten immer wieder weiter zurück in die Vergangenheit. Die Jahre zwischen 1991 und 1997 scheinen in dem albanischen Narrativ wie ein blinder Fleck, ein Nichts zwischen damals und heute.

Dabei ist es die Zeit, in der die noch heute gültigen gesellschaftlichen Vorstellungen geboren worden sind – allen voran die Formel „Der Rest von Europa“. Jene Formel, die auch Antigona bei ihrer Führung immer wieder erwähnt und über die die albanische Philosophin Lea Ypi schreibt:
„Während dieser Jahre war der Rest von Europa mehr als ein Kampagnen-Slogan. Er stand für eine spezifische Art zu leben, die sehr viel öfter imitiert als verstanden und häufiger absorbiert als gerechtfertigt wurde.“
Lea Ypi (Übers.d.A)
Dann stehen wir vor dem Parlamentsgebäude, „das Haus der Klimaanlagen“, wie Antigona es ironisch nennt, weil vor jedem Fenster eine hängt. Für sie: Sinnbild der Verschwendung einer korrupten Regierung. Sie erzählt uns, dass es bei der letzten nationalen Wahl nur noch 30% Wahlbeteiligung gab und sagt leidenschaftlich: „Es ist falsch, nicht zur Wahl zu gehen. Jede nicht abgegebene Stimme ist ein stilles Ja für die Regierungspartei.“
Ich frage sie, wen sie lieber an der Macht sehen würde. Sie weiß es nicht. Sie selbst war während der Wahl mit einem studentischen Austauschprogramm im Ausland.
Was die Museen uns nicht erzählen
Die nächste Station meiner Recherche: Die Museen über die kommunistische Diktatur in der Hauptstadt. Ich bin froh, dass ich meinen Partner dabeihabe und nicht alleine hingehen muss. In der bedrückenden Atmosphäre eines unterirdischen Bunkers und dem „House of Leaves“, dem ehemaligen Überwachungszentrum eines Staates, der seine Bürger bis in den letzten Winkel ihres Privatlebens kontrollieren wollte, sehen Mark und ich uns detaillierte Folterberichte von Überlebenden an. Ein Museum des Grauens. Und ein Narrativ, was wieder mal abrupt mit dem Zweiten Weltkrieg beginnt und 1991 endet. Als wären all diese finsteren Strukturen aus dem Nichts entstanden und danach wieder ins Nichts verschwunden. Vielleicht, weil es hier keinen verlorenen Krieg gab, keine offensichtliche Besatzung, keine Umerziehungscamps und kein Schulddogma.
Was mit den Tätern und den Opfern nach dem Ende der Diktatur passierte, darüber verlieren die Museen kein Wort. Ich werde bald genug herausfinden, warum.
Warum ich mich als Deutsche mit albanischer Geschichte beschäftige
Aber warum sollte ich, eine Deutsche, mich überhaupt mit albanischer Geschichte beschäftigen? Warum sollten Lesende in Deutschland sich für diese Geschichte interessieren?
Ich habe mir die Frage selbst lange gestellt. Anfangs war es ein rein intuitives Interesse. Der Anblick eines Hotelkomplexes in Saranda, im Herbst 2022, die Wandfarbe angefressen vom Salz, die Morgensonne spiegelnd in den Fensterscheiben, das tief strahlende Blau des Meeres. Ein Bild, ein Indiz für eine Geschichte, die entdeckt und geschrieben werden wollte. Seitdem finde ich die Indizien: Texte, Bilder, Dinge, die Leute sagen. Aber erst jetzt, wo ich erkannt habe, dass meine ganze Arbeit sich immer schon um kollektive Traumata gedreht hat – dass ich nur das Konzept nicht kannte – wird das verbindende Element für mich sichtbar. Ich hatte 2022 eine Idee, ohne schon der Mensch zu sein, der diese Idee hätte umsetzen können.
Der Nebel des Nicht-Sehen-Wollens
Was interessiert mich als Deutsche an dieser albanischen Geschichte?
Alle Traumata haben eines gemeinsam: Es ist nicht angenehm, ihnen zu begegnen. Menschen entwickeln die unglaublichsten Ausweichstrategien, um ihre inneren Verletzungen nicht fühlen zu müssen. Thomas Hübl („Kollektives Trauma heilen“), der seit Jahrzehnten Gruppenprozesse zur Heilung dieser kollektiven Traumata leitet, beschreibt das Nicht-Sehen-Wollen als eine signifikante Phase im Prozess. Menschen werden dann auf einmal müde, abgelenkt, verlieren die Verbindung zur Gruppe. Es ist eine der größten Herausforderungen eines Prozessbegleiters, dafür zu sorgen, dass der Prozess nicht an diesem Punkt zum Stillstand kommt.
Dieser Effekt des Nicht-Sehen-Wollens führt dazu, dass unser eigener Schatten tendenziell schwerer zu erkennen ist als der Schatten anderer. Wir alle kennen diese Dynamik in persönlichen Beziehungen und es ist nicht schwer vorstellbar, dass es kollektiv ähnlich ist.

Es ist erschütternd, wie leicht es für mich in Albanien ist, die richtigen Fragen zu stellen. Wie schnell ich taube Stellen bemerke und Strukturen erkenne. Wenn ich mich dagegen der dunklen Geschichte meines eigenen Herkunftslandes zuwende, ist es, als müsste ich mich durch einen dichten Nebel durcharbeiten. Was ich als Individuum, als Künstlerin, hier wahrnehmen kann, wird begrenzt durch meine Angst vor der Dunkelheit in mir. Der Dunkelheit meiner Ahnen und meines Umfeldes, die seit meiner Geburt in meinen Genen liegt, die ich über mein Nervensystem und durch hundert kleine Interaktionen mit anderen übernommen habe. Der Teil meines Schattens, der so normal geworden ist, dass ich ihn nicht mehr richtig erkennen kann.
Das berührbare Trauma
Wenn ich jetzt beginne, über Albanien zu schreiben, dann schreibe ich keinen dokumentarischen Roman. Das können Schriftsteller wie Stefan Capaliku oder Rita Petro, die in diese Kultur hineingeboren worden sind, sicher viel besser. Meine Sichtweise ist eine imaginäre. Die Frage, die ich stelle, ist nicht: Was ist damals passiert? Sondern: Welche Geschichten erzählen sich Menschen darüber? Welche Narrative, Bilder und Symbole formen das kollektive Bewusstsein, was die Menschen hier von der Gesellschaft haben, in der sie leben?
Das albanische Trauma aus der Diktatur unter Enver Hoxha unterscheidet sich in vielen Aspekten vom deutschen Holocaust-Trauma. In anderen Aspekten ist es ähnlich. Vor allem habe ich den Verdacht, dass sich die Art, wie beide Länder ihre jeweiligen historischen Traumata in die Jetzt-Zeit projizieren, irgendwie ähnelt. Aber ich bin in Albanien auf ein Trauma gestoßen, das zeitlich näher ist als in Deutschland. Auch die Zeit danach, die bestimmende Brücke zwischen Damals und Heute, liegt so kurz zurück, dass die Erinnerungen der Menschen daran noch stark im jetzigen Leben präsent sind.
Zwar war auch in Albanien Amerika maßgeblich am Umsturz beteiligt – schon 1948 entschied das in Washington installierte Free Europe Committee, dass Albanien das erste europäische Land sein sollte, in dem ein regime change erprobt werden sollte. Aber in Deutschland ist unsere Möglichkeit, uns fühlend mit dem Trauma des Dritten Reichs zu beschäftigen, noch viel stärker erschwert durch das von den Besatzern institutionalisierte und in den Schulen intensiv vermittelte Schuld-Dogma. Dadurch, dass ich mich intensiv mit einem fremden Trauma beschäftige, hoffe ich, die gemeinsamen Muster spür- und erfahrbar zu machen. Einen künstlerischen und intuitiven Zugang zu finden zu den Strukturen, in denen Geschichte sich global immer wieder wiederholt.
Das Paradies und seine Dunkelheit
Nach einer Woche in Tirana reise ich gemeinsam mit Mark in den Süden – hinunter in die Küstenstadt Saranda, in der mein Roman spielen soll. Ich kehre zurück an den African Beach, wo ich vor eineinhalb Jahren die erste Idee für diese Geschichte hatte. Der weiße Kies unter meinen Füßen ist warm, das Wasser beim Schwimmen noch schmerzhaft kalt an der Haut. Diese Klarheit! Grün wie Glas am Ufer, dann türkis, dann tief strahlend blau.
Ich erinnere mich wieder an den permanenten Stress in meinem Körper beim letzten Mal. Die Angst, nicht zu gefallen. Die Angst, verstoßen zu werden. Die Angst, zu lebendig zu sein vor allem (Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen!).

Ich kehre zurück in eine Stadt, die auch die Erinnerung an meine eigenen Wunden in sich trägt, die Erinnerung an meinen letzten albanischen Sommer, den Sommer vor der Trennung von meinem damaligen Partner.
Von dem Versuch, schneller zu laufen als mein Schatten
Wenn ich heute über Trauma schreibe, dann ist das nicht zuletzt auch das Ergebnis dieses Sommers. Die Erfahrungen, die ich in dieser Beziehung gemacht habe, haben mich tiefer mit meiner eigenen Dunkelheit konfrontiert als jemals zuvor und mich mit einem tiefen Schock und einem erschütterten Selbstvertrauen zurückgelassen. Um davon zu heilen musste ich Stück für Stück dieses Schattens ans Licht holen und integrieren.
Es ist eine Dunkelheit, die mir schon als Kind instinktiv bewusst war. Auch mein Schreiben bis hierher war nicht zuletzt der Versuch, schneller zu laufen als mein Schatten. Und nie bin ich schneller gerannt als in diesem Sommer 2022 – nie hat mein Nicht-Sehen-Wollen und meine Selbstverleugnung eine höhere Intensität gehabt.
“Someone tells me, time is indifferent
Skopje, März 2021
And I keep saying, this is irrelevant
I gotta run
There’s a lake of darkness always waiting for me”
Jetzt, bei der Rückkehr nach Saranda, ist alles wieder da. In den ersten Tagen erlebe ich intensive Angst, Trauer und Zustände der völligen Dissoziierung. Einmal komme ich zurück in unsere gemeinsame Wohnung und als Mark mich fragt, wo ich gewesen bin, kann ich mich nur noch bruchstückhaft erinnern. Aber das ist okay. Ich bin zurückgekommen in dem Bewusstsein, dass das passieren wird. Und auch in dem Wissen, dass ich damit umgehen kann und will.
Es ist jetzt leicht geworden, mich zu erinnern. Die Erinnerungen schwappen von selbst hinein in diesen Körper, der zum Raum geworden ist, zum Gefäß für alles, was war, ist und sein wird. Als würde ich als Geist durch mein eigenes gelebtes Leben gehen, um alles zu sehen und zu fühlen, was ich damals nicht sehen und fühlen wollte. Ich versuche nicht mehr, vor der Dunkelheit davonzulaufen. Ich gehe ihr mit offenen Armen entgegen.
Ich bin der Mensch geworden, der ich werden musste, um diesen Text schreiben zu können.
Quellen: Lea Ypi: Free. Coming of Age at the End of History. Penguin, 2022; Thomas Hübl: Kollektives Trauma heilen. Verborgene Verletzungen der Seele verstehen und transformieren. Heyne-Verlag, 2023.


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