26. April, Çorovodë. Diese kleine Stadt in den Bergen ist ziemlich leer; ich habe einen Truthahn getroffen, der bestimmt zwanzig Minuten vor mir auf und ab stolziert ist und sich in meiner Bewunderung gesonnt hat. Wie man sieht, habe ich Zeit. Meine Recherche in Albanien ist zu Ende – auch wenn ich gerade noch zwei Interviews über Chat führe – und in ein paar Tagen werde ich in Durrës auf die Fähre gehen und nach Neapel zurückkehren.
„Danke, was du für mein Land tust.“
In den letzten vier Wochen habe ich mit vielen unterschiedlichen Menschen gesprochen. Solche, deren Eltern im Kommunismus hohe Positionen innehatten und solche, die aus verfolgten Familien kommen. Menschen, die emigriert sind und andere, die geblieben oder zurückgekehrt sind. Sie alle haben in diesen paar Jahren nach dem Ende des Kommunismus Hoffnung und Enttäuschung erlebt, und sie alle wurden durch diese Erlebnisse für ihr ganzes Leben geprägt. Wenn ich eines gelernt habe, dann das: Die Geschichten, die wir uns über unser Leben erzählen, sind machtvoll. Und sie bestimmen nicht nur die Vergangenheit, sondern auch Gegenwart und Zukunft.
Viele meiner Gesprächspartner schienen es beinah als ein Geschenk zu empfinden, mit mir darüber zu sprechen. Aneta Mihali Xhiku, eine Frau in Amerika, mit der ich Kontakt hatte, schrieb mir: „Danke, was du für mein Land tust.“ Es war ein Satz, der mich beinah überforderte, bei dem ich gar nicht wusste, wie ich darauf reagieren soll und der mir noch lange im Gedächtnis blieb.
Aber im Laufe des Gespräches verstand ich, warum sie so empfand. Aneta ist in Albanien vor einigen Jahren ziemlich bekannt geworden, einfach nur, weil sie einen Text auf Facebook gepostet hatte, in dem sie über das Leid und die Entwurzelung vieler albanischer Emigranten schrieb. Sie brach damit ein Tabu in der albanischen Öffentlichkeit – und ging über Nacht viral. Der Glaube, dass es überall woanders besser sei als in Albanien, ist in den Menschen hier tief verankert. Denn das „letzte freie Land der Erde“ endete 1991 mit der abrupten Erkenntnis, dass der Rest der Welt die Albaner eher bemitleidete als beneidete. Diese Demütigung, zusammen mit der Enttäuschung des Bürgerkrieges von 1997, führt heute zu einer weit verbreiteten Geringschätzung gegenüber dem eigenen Herkunftsland. Dass ich, eine Fremde, jetzt herkomme und mich genau für diese Geschichte interessiere, scheint viele Menschen stark zu berühren.
Erinnerungslinien
Die Intensität, mit der die Menschen, mit denen ich gesprochen habe, sich erinnern, ist unterschiedlich. Ich habe gelernt, das zu fühlen: Linien, die Menschen zu ihrer eigenen Vergangenheit zurückverbinden.

Bei manchen sind es dünne Fäden, die schnell auf Taubheit stoßen. Für andere ist diese Erinnerung eine Art Lebenswerk. Es sind innere Straßen, die uns zurückverbinden und in der Gegenwart handlungsfähig machen. Und es gibt in allen diesen Gesprächen Momente, an denen Menschen aus der Präsenz gehen. Punkte, an die das Bewusstsein nicht gehen will.
Wie unser Gehirn Vergangenheit und Zukunft verarbeitet
Dass unsere Erinnerungen und die Intensität, mit der wir uns erinnern können, unsere Fähigkeit zur Persönlichkeitsbildung und zum selbstständigen Denken beeinflussen, wird tatsächlich auch von den Neurowissenschaften bestätigt. Der Hippocampus ist der Bereich in unserem Gehirn, der für das autobiographische Gedächtnis zuständig ist. Wenn er ordnungsgemäß funktioniert, bilden wir bis ins hohe Alter Neuronen, die neue Erlebnisse und Gefühle abspeichern. Damit sind wir in der Lage, uns weiterzuentwickeln, neue Erkenntnisse zu integrieren und geistig fit und präsent zu bleiben. Dieser Prozess nennt sich „hippocampale Neurogenese“. Ist er gestört, häufen sich geistige Erschöpfungszustände und Depressionen und die Fähigkeit zum kreativen, selbstständigen Denken wird beeinträchtigt. Auch Alzheimer ist die Folge einer gehemmten Neurogenese.
Der Bereich in unserem Gehirn, der verantwortlich dafür ist, zu speichern, was war, beeinflusst also auch unsere Fähigkeit, Neues zu erschaffen. Diese Erkenntnis aus der Neurowissenschaft stimmt überein mit dem, was Thomas Hübel über kollektive Traumata schreibt: Wenn unsere Erinnerungen, gerade unsere traumatischen Erinnerungen, nicht integriert werden, sind wir dazu verdammt, Altes ständig zu wiederholen, weil wir nur eingeschränkten Zugang haben zu unserer Möglichkeit, uns tatsächlich weiterzuentwickeln. Der Arzt Michael Nehls sagt in einem Artikel zum Thema:
„Die Summe aller Index-Neuronen (der Neuronen im Hippocampus, Anm.d.A.) stellt unseren persönlichen Erfahrungsschatz dar. Sie dienen aber nicht nur der Erinnerung an vergangene Erlebnisse und Gedanken, sondern sind auch entscheidend für den Erhalt unserer psychischen Resilienz (seelischen Widerstandskraft) und die Entwicklung unserer mentalen Resilienz. Letztere beruht auf der Fähigkeit, kritisch zu reflektieren, neue Ziele zu planen und umzusetzen und steht in engem Zusammenhang mit unserer Kreativität, welche sich wiederum aus unserem individuellen Erfahrungsschatz speist.“
Die Überlagerung unseres persönlichen Erlebens
Das Brisante daran: Unser persönliches Erleben kann von kollektiven Narrativen überschrieben werden. Das gilt insbesondere dann, wenn diese stark emotional aufgeladen sind, wie das zum Beispiel in der Nachrichtenkommunikation unserer Medien der Fall ist. Die Aufnahmefähigkeit des Hippocampus ist nämlich nicht unbegrenzt.
Gerade gegen Abend erreichen Menschen oft einen Zustand der Ego-Depletion (Selbsterschöpfung). Wenn wir in diesem Zustand zum Beispiel eine mit Angst aufgeladene Nachrichtensendung über ein schockierendes Thema anschauen, werden autobiografische Erinnerungen überschrieben.
Das Gehirn hat keine Kapazität mehr, nimmt das Erzählte aber durch das damit verbundene Angstgefühl als relevanter wahr als die eigenen Erinnerungen. Das individuelle Erleben wird damit zum Teil überlagert und gelangt nie ins Langzeitgedächtnis.
Die revolutionäre Kraft des Geschichtenerzählens
Diese Erklärung zu lesen war für mich sehr aufregend. Denn sie liefert eine wissenschaftliche Erklärung für ein Phänomen, was mir schon länger auffällt. Vor allem erinnere ich mich an ein Theaterprojekt meines Freundes Martin Kroissenbrunner aus Graz, bei dem ich letzten Herbst mitgemacht habe. Es handelte sich dabei um ein Erzähltheater mit dem Titel „Take22“, bei dem die verschiedensten Menschen auftraten und ihre persönlichen Erinnerungen aus dem Jahr 2022 teilten.
In den Besprechungen zu den Aufführungen fiel mir auf, dass sowohl die Teilnehmenden als auch das Publikum immer wieder sagten, es sei ihnen schwergefallen, sich an das Jahr 2022 überhaupt zu erinnern. Eine Künstlerin sagte ganz direkt: Sie sei einfach ausgestiegen irgendwann, erst Covid, dann der Ukraine-Krieg, irgendwann habe sie aufgegeben und nur noch ausgehalten.

Ihre eigenen Erinnerungen waren ihr viel weniger zugänglich als die Nachrichten, die sie in dieser Zeit konsumiert hatte und die sie stark emotional beschäftigt und geängstigt hatten. Es ist ein Effekt, den viele Menschen in Westeuropa mehr oder weniger stark erlebt zu haben scheinen. Als verschwände ihre Individualität hinter einem kollektiven Angstnarrativ, das die persönliche Perspektive beinah verunmöglicht hat.
Das Erzählen von persönlichen Geschichten: Das kommt so harmlos und nett daher. Aber die Rückverbindung zu unserem eigenen Erleben und unseren Erinnerungen hat eine enorme kollektive Relevanz.
Ein Kollektiv, in dem die Mehrzahl der Menschen nicht mehr in der Lage ist, ihre Erinnerungslinien aufrechtzuerhalten, wird dysfunktional und extrem manipulierbar. Ohne subjektive Berührbarkeit sind wir auch nicht in der Lage, Trauma zu erkennen und zu heilen. Wir interagieren mit dem Kollektiv immer aus einer subjektiven Perspektive und immer in einem Modus der direkten Begegnung. Können wir das nicht, werden wir vom Kollektiv und dem, was da gerade präsent ist, einfach mitgezogen. Unsere Fähigkeit, eigene Gedanken zu denken und bewusst Position zu beziehen, ist nicht mehr vorhanden, wenn die Subjektivität von kollektiven Narrativen überschrieben wird.
Ohne Subjektivität gibt es keine Verbindung
Sowohl in Martins Erzähltheater als auch in meinen Interviews jetzt konnte ich beobachten, wie das Teilen und Aktivieren von Erinnerungen Verbindung schafft. Wenn mir jemand eine Geschichte erzählt und ich intensiv und in absoluter Präsenz zuhöre, entsteht ein Wir-Raum von Verständnis und Mitgefühl. Mehr noch: Ich nehme es so wahr, dass die Erinnerungssysteme verschiedener Menschen sich durch das Erzählen und Zuhören verbinden. Ich gelange dann in einen Zustand erhöhter Wachheit und Präsenz, in dem mein Gehirn blitzschnell Verbindungen knüpft zwischen Dingen, die vorher separat erschienen sind. An diese Menschen, die mir im Rahmen meiner Recherche Zugang zu ihrem Erfahrungsschatz gegeben haben, werde ich noch lange denken.
Bei manchen Menschen springt das Bewusstsein auch und sie können sich kaum noch konzentrieren. Im fühlenden Zuhören merke ich, dass es Punkte in der Erinnerung meines Gegenübers gibt, die die Präsenz erhöhen, wenn sie berührt werden. Und dann gibt es andere, die sich taub anfühlen, zu denen die Verbindung nicht richtig hergestellt wird. No-Go-Areas.

Ich vermute, dass das die Erinnerungslinien sind, die in Richtung von ungelösten Traumata führen, zu denen wir die bewusste, fühlende Verbindung gekappt haben. Das Erzählen und Hören unserer Geschichten als uralte, menschliche Kulturtechnik und eine bewusste Übung im Erinnern könnte die mentale und emotionale Kapazität erhöhen und dabei unterstützen, diese Verbindungen wieder herzustellen.
Der Anfang der Geschichte
Jetzt ist es fast elf Uhr abends und die Hotelbar ist schon seit einer Weile geschlossen. Das Glas Wein, das der Hotelbesitzer mir geschenkt hat – vermutlich, weil es ihm leidtat, mich wegzuschicken – ist auch fast leer. In ein paar Tagen gehe ich auf die Fähre nach Italien, voll von den Erinnerungen anderer Menschen. Rückverbindungen in eine Vergangenheit, die gar nicht meine ist und irgendwie doch. Wie Emiljano aus dem Archäologischen Museum in Sarandë gesagt hat: „Die Geschichte gehört nicht mir oder dir. Sie gehört uns allen.“
Ich hoffe, dass ich das auch für andere fühlbar machen kann.
Dass einer aufhört, sein eigenes, kleines Leben unwichtig zu finden.
Dass eine abends im Bett liegt und sich bewusst darin übt, sich an ihren Tag zu erinnern.
Dass ein Mensch einen anderen nach seiner Geschichte fragt und dann zuhört mit allem, was es gibt.
Die Geschichte als Historie, als größerer Rahmen, besteht eigentlich aus vielen kleinen Geschichten. Nur wenn wir diese kleinen Geschichten hören und fühlen, können wir Zugang bekommen zu einem größeren Geschichtsverständnis, das mehr ist als die Überbleibsel von staatstragenden, zweckgebundenen Narrativen aus mehreren Jahrhunderten.
Anmerkung: Eine gestörte hippocampale Neurogenese hat natürlich mehr mögliche Ursachen als ich in diesem Artikel nennen kann. Das ist nochmal ein ganz eigener Themenbereich – und ein ganz schön relevanter, angesichts dessen, dass die Diagnosen für Depression und Alzheimer in Deutschland Rekordzahlen schreiben.
Quellen: PD Dr. med. Michael Nehls: Globaler Krieg gegen das mentale Immunsystem der Menschen. Hintergrund 1-2-2024; Thomas Hübl: Kollektives Trauma heilen. Verborgene Verletzungen der Seele verstehen und transformieren. Heyne-Verlag, 2023; Statistisches Bundesamt: Diagnose Alzheimer: Zahl der Klinikbehandlungen und Todesfälle binnen 20 Jahren mehr als verdoppelt. Stand 20.09.2022; Statistisches Bundesamt: Psychische Erkrankungen wurden 2020 bei 18 % der Krankenhausbehandlungen von 15- bis 24-Jährigen diagnostiziert. Stand 09.08.2022.


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