Hieroglyphen für den Frieden: Ein Plädoyer für die Selbstverliebtheit.

Ein Sommerabend voller Licht an einem Tag Ende Juli in Schwerin. Ich packe Rotwein ein, Brot, Käse, Tomaten, Feigen und Tabak und spaziere von meinem Hotel zum Schloss hinunter. Es ist immer noch heiß und wie das Schloss sich dort aus dem Wasser erhebt mit seinen funkelnden Geländern, seinen vielen Fenstern und der blassgelben Fassade, in die bunte Steine eingelassen sind! Der See ist glatt wie ein Tuch und die Kastanienbäume und das kurze Gras strotzen vor Leben, vollgetrunken mit all dem Regen dieses Jahres, gierig nach der endlich eingetroffenen Sonne. Es ist hell hell hell, wie in den Träumen, die ich seit Anfang des Sommers immer wieder habe. An so einem Abend möchte ich glauben, der Frieden sei ausgebrochen, wie ich es auf einem Buchdeckel in einem Schweriner Schaufenster gelesen habe. An so einem Abend möchte ich an den Weltfrieden glauben.

Vom Glück, zu existieren

Im Schneidersitz sitze ich auf der Wiese am Ufer, esse, trinke und lese die letzten Seiten in den “Unsichtbaren Städten” von Italo Calvino. Bis ich plötzlich unterbrochen werde: Vor mir steht ein merkwürdiger Mann mit einem grünen Rucksack und einer Kette mit einem riesigen Messinganhänger in Form eines Schlosses. “Darf ich Werbung für meinen Youtube-Kanal machen?”, fragt er.

Auf meine Frage, was er denn mache, erklärt er, er singe Wunschlieder für Mädchen. Kurz denke ich, er werde mir jetzt mein eigenes Wunschlied singen, aber stattdessen überreicht er mir eine Pokemonkarte, auf deren Rückseite ein Stück Karopapier geklebt ist. Darauf steht der Name seines Kanals und darunter eine kleine Zeichnung in Rot. “Was ist das?”, frage ich.

“Es ist meine eigene Hieroglyphe”, sagt er ernsthaft. “Sodass ich ein Zeichen in der Welt zurücklasse. Sie bedeutet Weltfrieden.”

Kaum ist er weg, werfe ich mich rücklings ins Gras und lache lange und lauthals. Die Welt ist so ein absurder Ort. Und ich spüre an diesem Abend so richtig, wie viel Spaß es macht, ich selbst und darin unterwegs zu sein.

Durch die warm angestrahlte Stadt gehe ich zurück zu meinem Zimmer. Ich genieße die bewundernden Blicke der Menschen, die mir entgegenkommen. Ich genieße es, wie die älteren Frauen ihre Männer zur Seite ziehen, ja, auch das, ich gebe es zu. Ich gehe durch diese abendliche Stadt und bin hoffnungslos und unreflektiert in mich selbst verliebt. So, wie ich sonst oft Mark anhimmele, wie ich manchmal neben ihm eine Straße entlanggehe und heimlich denke, er ist der schönste, klügste, stärkste Mann der Welt, so fühle ich heute über mich selber. So, wie ich manchmal seine Hand halte und mich frage, wie ich so viel Glück haben kann, so bin ich heute Abend von tiefer Dankbarkeit erfüllt, weil ich ein ganzes Leben mit mir selbst verbringen darf. 

Die Doppelmoral gegenüber der Verliebtheit

Später, zurück in meinem Hotelzimmer, schreibe ich in mein Tagebuch, ich sei heute Abend ganz schön eingebildet. Aber dann halte ich inne. Was ist das eigentlich für eine Bewertung? Sicher zeichnet meine Selbstverliebtheit kein realistisches Bild davon, wer ich bin. Aber niemand hat je behauptet, Verliebtsein diene dazu, den Realismus zu befördern.

Ist es nicht seltsam? Solange unsere Verliebtheit einen anderen Menschen betrifft, sind wir nachsichtig damit, betrachten sie als ein glückliches Ereignis, kreieren ganze Kunstwerke daraus. Aber wenn ich in mich selbst verliebt bin, dann ist das plötzlich etwas ganz Verachtenswertes.

In der Beziehung zu einem Partner versuchen wir, die Verliebtheit so lange wie möglich aufrechtzuerhalten – und in der Beziehung zu uns selbst sollen wir sie so schnell wie möglich überwinden. Da stimmt doch was nicht.

Warum die Welt unsere Selbstliebe braucht

Dass es wichtig sei, sich selbst zu lieben, das ist so eine Plattitüde, der zumindest in der westlichen Welt kaum jemand widersprechen würde. Aber in den letzten Wochen begreife ich noch einmal viel tiefer, was das eigentlich bedeutet. Dass das wirklich stimmt: Wenn ich irgendetwas tun will in dieser Welt, was über die Beschäftigung mit mir selbst hinausgeht, dann ist Liebe eine Notwendigkeit. Liebe zu mir selbst ist es nämlich, die mich stark genug macht, meine eigenen Schatten zu sehen, ohne mich dafür zu verachten. So sehr wie ich dazu in der Lage bin, so sehr kann ich über das Dramaspiel meines Lebens hinausschauen und meine Aufgabe in der Welt erkennen.

Die hohe und die niedrige Motivation

Was ich damit meine, ist folgendes: Dort, wo ich mich für etwas engagiere, wo ich etwas tue, was für die Welt und für andere ist, habe ich immer eine hohe und eine niedrige Motivation. Die hohe Motivation ist uns meistens sehr bewusst: Sie betrifft unsere Ideale, unsere Werte, die Gründe, warum wir eine bestimmte Sache als so wichtig fühlen, dass wir unsere Zeit und unsere Energie hineinstecken wollen. Sie ist dort, wo wir mit einem Teil der Welt so verbunden sind, dass er uns betrifft und dass wir instinktiv fühlen, dass wir dort eine Aufgabe haben.

Die niedrige Motivation dagegen kommt von dem Platz in uns, wo wir für uns etwas möchten, wo es in uns einen Hunger gibt, den wir nähren dadurch, dass wir uns engagieren. Diese Motivationen wollen wir oft nicht haben; wir neigen dazu, sie zu verdrängen, zu verleugnen oder auch in uns zu bekämpfen, in dem Gefühl, dass ihre Existenz den Wert unseres Tuns irgendwie beeinträchtigt. Denn häufig  kommen diese “niedrigen” Motivationen aus einem Mangel oder einer Angst oder einer anderen Form von Trauma.

Zum Beispiel habe ich hohe Motivationen für mein Schreiben, die – ganz simpel ausgedrückt – überall dort sind, wo ich spüre, dass es in mir etwas gibt, das so wertvoll für die Welt ist, dass ich es ausdrücken und kommunizieren muss. Meine stärkste “niedrige” Motivation auf der anderen Seite ist folgende: Mein Hunger nach Bewunderung.

In mir lebt ein Kind, das permanent nach Aufmerksamkeit quengelt und eine weise Alte, die alles, was es gibt, aus ihrer eigenen Tiefe holen kann, beide gleichzeitig, Seite an Seite.

Die Wünsche des quengelnden Kindes

Was passiert jetzt, wenn ich dieses quengelnde Kind ständig überhöre und zurechtweise? Wie alle ungenährten Kinder wird es listig werden und Wege finden, sich seine Bedürfnisse trotzdem zu erfüllen; vielleicht, indem es sie als “hohe” Motivationen tarnt. Aber dort, wo ich mir selbst erzähle, dass ich etwas für die Welt tun will, während es mir einfach nur darum geht, dass mir jemand sagt, wie toll ich bin, bin ich in Illusion. Ich verliere die Verbindung zu meiner Vision und beschäftige mich stattdessen mal wieder mit dem Drama meiner persönlichen Geschichte.

Hier kommt die Selbstliebe ins Spiel. Denn schauen wir uns noch einmal genau an, was wir eigentlich tun, wenn wir unsere inneren quengelnden Kinder so behandeln: Wir sind extrem lieblos.

Wir zeigen diesem Anteil in uns selbst gegenüber eine Unnachsichtigkeit und Härte, die uns wahrscheinlich empören würde, wenn wir sehen würden, wie jemand ein Kind aus Fleisch und Blut so behandelt.

Mir fällt zum Beispiel ein, wie zuverlässig meine Mutter uns Kinder für jedes Bild gelobt hat, was wir gemalt haben. Jedesmal, wenn ich mit einem neuen Bild fertig war, bin ich zu ihr gelaufen, um es ihr zu zeigen. Ich erinnere mich auch, dass ich mich an manchen Tagen beeilt habe, so schnell wie möglich immer neue Bilder zu produzieren, um dieses Lob zu bekommen. Diese Bilder waren wahrscheinlich nicht die besten, die ich jemals gemalt habe. Trotzdem wäre es meiner Mutter wohl nicht im Traum eingefallen, zu mir zu sagen, ich solle mal lernen, mein Bedürfnis nach Bewunderung zu überwinden.

Die Kunst, Gleichzeitigkeit zuzulassen

Wenn ich erkenne, dass es in mir immer ein unreifes Kind mit kindlichen Wünschen geben wird, dann wird es natürlich, diesem Kind – wann immer das möglich ist – seine Wünsche liebevoll zu erfüllen. Und wenn ich das tue, dann werden diese Wünsche sehr viel weniger Macht über mich haben. Das Erfüllen dieser Wünsche wird zu etwas, was ich mir freundlich selber gebe und geben lasse. Bewunderung und Anerkennung von anderen ist dann etwas, was das Leben mir schenken darf. Und nicht mehr der Grund für mein Handeln.

Wir brauchen eine Reinheit in der Absicht, um etwas zu erschaffen. Aber Reinheit in der Absicht meint eben gerade nicht die Abwesenheit aller kleinen, egoistischen Wünsche. Sie meint die Gleichzeitigkeit, in der ich nicht der Versuchung nachgebe, mich im Großartigen zu verlieren und alles an mir vergessen zu wollen, was nicht würdig erscheint. Reinheit in der Absicht bedeutet, dass ich in der Lage bin, alle Teile von mir da sein zu lassen, aber selbst zu wählen, welcher Teil wann die Quelle meiner Aktionen ist.

Das quengelnde Kind und die weise Alte sind untrennbar. Und all das Verquere, Unausgeglichene in mir bereichert mein menschliches Erlebnis, solange ich die Richtung nicht verliere.

Selbstverliebtheit als transformierende Kraft

Und hier kommen wir auch wieder zur Selbstverliebtheit. Der Facette von Selbstliebe, die sich die meisten Menschen am wenigsten erlauben. Dabei ist sie die andere Seite der Medaille. Denn was ist Verliebtsein anderes als der Rausch, der daher kommt, dass wir das volle Ausmaß des Lichtes in jemandem erkennen? Wir neigen oft dazu, uns aus dem Zustand der Verliebtheit heraus Illusionen über das Wesen des anderen zu machen und uns dann getäuscht zu fühlen. Aber Verliebtheit ist erst einmal nichts anderes als das tiefe, das ganze Wesen umfassende Vergnügen an der Schönheit eines Menschen. Verliebtheit ist ein transformativer, kraftvoller Zustand des Seins. Der deutsche Begriff dafür, der klingt, als wäre in der Liebe etwas schiefgegangen (so, wie wir uns “verlaufen” oder “versprechen”, “verlieben” wir uns eben auch) ist da eigentlich ziemlich irreführend. 

Wenn Menschen verliebt sind, dann können sie plötzlich zu großen Veränderungen in der Lage sein, für die sie vorher keine Kraft hatten. Warum sollte ich mich von diesem Potenzial abschneiden?

Ich glaube sogar, dass Selbstliebe ohne die Erlaubnis zur (momenthaften) Selbstverliebtheit eher eine Form von ständigem Mitleid ist.

Wenn ich mich nur noch um das Erfüllen meiner kindlichen Wünsche kümmere, ohne auf der anderen Seite ein Erlebnis meines Lichtes und meines Potenzials zu haben, an dem ich mich messen kann: Dann wird daraus schnell auch wieder eine extreme Selbstbezogenheit. Dann kann es passieren, dass ich keinen Sinn mehr darin sehe, mich herauszufordern. Oder ich erwarte sogar, dass der ganze Rest der Welt sich meiner kindlichen Verletzlichkeit unterordnet. 

Selbstliebe ist wichtig – das ist eine Plattitüde. Und wenn es um Plattitüden geht, dann neigen wir manchmal dazu, das Gefühl zu haben, das „wissen“ oder „können“ wir schon. Aber gerade da lohnt es sich, noch einmal genauer hinzuschauen, was es wirklich bedeutet, wenn wir sagen, dass wir uns selber lieben.

Selbstliebe wirklich zu verkörpern, mit all ihren Facetten und all ihren Herausforderungen ist etwas, das über uns selbst hinaus Wirkung entfaltet. Sich selbst zu lieben ist kein Egoismus und kein esoterisches Wohlfühlprogramm. Sondern ein radikaler Akt des In-Beziehung-Tretens mit der Welt

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