Wege, die wir nicht gegangen sind

Ausnahmsweise veröffentliche ich hier heute keinen Artikel, sondern ein Gedicht. Dieses Gedicht habe ich sehr oft vorgetragen – bei Lesungen, auf Familienfeiern, sogar in einem Webinar der Unternehmensalchemie. Und jedes Mal gibt es dann Menschen, die Tränen in den Augen haben und mich nach dem Text fragen. Um mir die Arbeit zu ersparen, die es kostet, den Text jedes Mal persönlich zu verschicken, habe ich mich dazu entschieden, in diesem Blog heute mal ein bisschen Lyrik zu veröffentlichen.

Es wird immer Wege geben

Es wird immer Wege geben, die ich nicht gegangen bin.

Es wird immer falsche Himmel geben

Tage, die mir nicht gehören

Bahnhöfe, an denen ich nie ausgestiegen bin

Worte, von denen ich wünschte, ich hätte sie gesagt

Türen, die nur deshalb da waren, damit ich

Sie nicht öffnen konnte

Es wird immer Plätze geben, an die werde ich nie zurückkehren

Wiedersehen, für die es zu spät ist

Kreuzwege, an denen ich so lange gewartet habe

Bis die Kreuzung keine Kreuzung mehr war, sondern nur

Der lange, sandige Pfad hinaus in die Welt

Hinaus in die Welt, in der ich noch nicht war

Hinaus in die Welt, der ich gehöre

Es wird immer Rufe geben

Die mein Ohr streifen, an milden Winternachmittagen

Mit gischtschwerer Luft und dem Duft nach Feigenblättern

Rufe aus den anderen Leben

Den Leben, die ich nie gelebt habe und die trotzdem

Nie aufgehört haben zu existieren

Deren Rufe mein Ohr streifen auf dem Weg zu einem unbekannten Abgrund

An dessen Rand ich nie

Die Angst vor dem Fallen gespürt habe

Es wird immer Wege geben, die ich nicht gegangen bin

Es wird in mir immer Fragen geben und Risse

Immer eine Unvollständigkeit, etwas letztes

Unbeantwortetes, nicht Repariertes

In dem die Welt wie durch einen Korridor

In mich eintreten kann 

Und es wird dort immer, immer, immer

Wege geben

Die Idee hinter diesem Text

An so einem gischtschweren Nachmittag mit dem Duft von Feigenblättern war ich im Süden Griechenlands. Es war Mitte Dezember und das Meer warf sich mit Wucht gegen die felsige Küste. In meinem Leben war ein Mann, von dem ich heute glaube, er hat sich mir zur Verfügung gestellt, damit ich noch ein letztes Mal sehen konnte, was ich alles nicht mehr wollte. Noch einmal durch alle destruktiven Muster gehen – nur diesmal ohne Scham. Es ist seltsam, aber für die Liste seiner Vergehen gegen mich empfand ich nachher nur Dankbarkeit. Sie markierten die roten Linien, die ich in Zukunft nicht mehr überschreiten würde, den gefühlten Schmerz, das klar erblickte Ungeheuer.

Und irgendwo dazwischen begriff ich: Es gibt Wege, die sind nur dazu da, damit wir uns entscheiden können, sie nicht zu gehen. Und andere, die öffnen sich bloß, damit wir an ihnen unser Scheitern erfahren. Und dann solche, die in uns bleiben, obwohl wir sie nicht gegangen sind: Als eine stetige, ziehende Erinnerung an etwas Ungelebtes, die uns verbietet, in der Apathie zu versinken. Unsere Leben sind Landkarten, keine Vorgärten. Sie sind zu groß, um jede einzelne mögliche Straße zu begehen. Es ging in Wahrheit nie darum, alles zu leben oder nichts zu verpassen. Ein solches Leben gibt es gar nicht. Und wenn, dann wäre es ohne jedes Geheimnis.

Können wir lernen, uns selbst zu vergeben für all die Wege, die wir nicht gegangen sind?

Wenn ja, dann werden wir vielleicht erkennen, dass diese unbegangenen Wege einer der größten Schätze sind, die wir besitzen.

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Eine Antwort zu „Wege, die wir nicht gegangen sind”.

  1. Liken funzt leider nicht. Dein Gedicht spiegelt deine Philosophie und das ist keine schlechte. Ich mag Menschen, die einen anderen Blickwinkel einnehmen oder versuchen einzunehmen. Die alten Pfade sind zu ausgetrampelt, lass uns neue schaffend erschaffen .. 🙂

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