Wie wirtschaftliche Asymmetrien zu kultureller Zerrissenheit führen

Zwei Geschichten will ich in diesem Blogartikel erzählen. Ich habe sie von ganz unterschiedlichen Menschen gehört und in zwei sehr unterschiedlichen Ländern. Und doch ist ihre innere Struktur verblüffend ähnlich. Sie zeigt uns, was wirtschaftliche Asymmetrien mit kulturellen Werten machen – und welche Folgen die daraus entstehende, wertemäßige Orientierung nach Westen in der Psyche der Menschen hat.

Albanischer Reality TV

Im Süden Albaniens am Meer. Am Rande eines Dorfes, nur wenige Meter vom Meer entfernt, findet seit mehreren Tagen ein Festival statt. Mein Freund und ich haben es irgendwie geschafft, am Empfang Pressetickets zu bekommen, obwohl wir natürlich nicht auf der Liste der Journalisten standen. Ein überzeugendes Auftreten hat gereicht und die Liste ist sowieso ziemlich lang: Vor Ort sind die verschiedensten albanischen Fernsehsender und Medien sowie die Vertreter einiger von der deutschen Entwicklungshilfe co-finanzierten Unternehmen und natürlich der größte albanische TV-Sender Top Channel. Die Kameramänner des letzteren verfolgen fast ständig den einzigen Schwarzen, der auf dem Festival zu Gast ist, stolz über das internationale Publikum. 

Am Abend des zweiten Tages finden wir uns in einer Gruppe junger Menschen aus Tirana wieder. Bier und Joints werden herumgereicht. Zwar ist Marihuana auf dem Festivalgelände offiziell verboten. Der Schmuggel durch die Eingangskontrolle fällt aber leicht, denn Frauen werden hier nicht durchsucht. Als das letzte Konzert des Tages vorbei ist, verlassen wir das Gelände und quetschen uns in zwei Autos, um dann in einem wahnsinnigen Tempo die unasphaltierte Strandpromenade entlang zu rasen, immer hin und her. Es holpert und ruckelt, durch die heruntergelassenen Fenster dringt Staub, die Musikboxen sind auf volle Lautstärke gedreht. Zwischendrin halten beide Autos nebeneinander wie auf ein geheimes Kommando und alle steigen aus, um die nächsten Joints zu drehen.

Ich lehne am warmen Blech des Autos und unterhalte mich mit einer Frau, die auch für das albanische Fernsehen arbeitet: Und zwar, so erzählt sie mir, für eine Reality-Sendung, deren Konzept in etwa dem deutschen “Promi Big Brother” ähnelt

Was sind wohl die Unterschiede zwischen deutschem und albanischem Trash-TV, frage ich mich. Und da erzählt mir die Mitarbeiterin des Fernsehsenders eine Geschichte, die ich nicht mehr vergessen werde: Weil sie mir etwas über die albanische Kultur verrät, was ich bis dahin nicht erfassen konnte.

In einer Staffel ihrer Sendung, erzählt mir die junge Frau, seien sich ein Mann und eine Frau näher gekommen; es entwickelte sich eine Liebesgeschichte. Parallel wurden die Familien der beiden dazu interviewt.

Der Vater der Frau sagte vor den Kameras, er wünsche ihr viel Glück, es sei wichtig, dass sie ihrem Herzen folge und so weiter. Gleichzeitig rief er immer wieder bei dem Fernsehsender an und flehte die Mitarbeiter an, seiner Tochter zu sagen, sie müsse sofort damit aufhören. Sie blamiere ihre Familie.

Zerrissen zwischen zwei Wertesystemen versuchte dieser Vater, irgendwie beidem zu entsprechen: Einerseits dem am Westen orientierten Individualismus, in dem das persönliche Glück der Tochter an erster Stelle steht. Andererseits ein traditionelles, familienorientiertes Wertesystem, in dem dasselbe Verhalten eine Bedrohung der Stabilität und der gesellschaftlichen Position der Familie darstellt.

Die marokkanische Schriftstellerin

Einige Monate später sitze ich in der einzigen Bar, die in der marokkanischen Stadt Chefchaouen Alkohol ausschenkt. Bei Einbruch der Dämmerung bin ich aus dem Haus gegangen, auf der Suche nach meinem Freund Said, der Maler ist und sein Atelier in der berühmten blauen Altstadt hat. In dieser Bar habe ich ihn schließlich gefunden und setze mich zu ihm. Am Tisch sitzen außerdem einige weitere Männer und – etwas sehr Außergewöhnliches – eine marokkanische Frau.

Für die Menschen von Chefchaouen ist diese Bar ein verruchter Ort. Und während Männer sich ohne einen allzu großen Verlust ihrer Reputation trotzdem dort aufhalten können, sind die einzigen geduldeten Frauen Prostituierte und westliche Touristinnen wie ich. Diese Frau gehört allerdings ganz offensichtlich in keine der beiden Kategorien. Zusammengekauert hinter dem aufgeklappten Schirm ihres Laptops nimmt sie kaum an den Gesprächen teil und raucht einen dicken Joint nach dem anderen. Mit ihrem schwarzen Pullover, den nachlässig zusammengebundenen Haaren und dem vom Leben versehrten Gesicht sieht sie auch nicht aus als sei sie auf der Suche nach Männern. Sie sei, erklärt mir Said, Schriftstellerin; die Frau blickt nur kurz auf, lächelt mich warm an und hämmert dann weiter in die Tasten. 

Ich bin schon eine ganze Weile an diesem Tisch gesessen, als sie schließlich doch noch einmal von ihrem Laptop aufschaut und sich ein wenig mit mir unterhält. Heute, sagt sie, sei ein ganz besonderer Tag: Denn heute sei es das erste Mal, dass sie in dieser Bar sitze und sich tatsächlich wohl dabei fühle.

Dafür hat sie lange trainiert. Sie ist immer wieder in Bars wie diese gegangen. Saß am Rand, manchmal mit dem Rücken zu allen anderen. Hat mit niemandem gesprochen. So lange, bis die Männer sich irgendwann an sie gewöhnt hatten. Stück für Stück hat sie sich diese Freiheit erobert.

Aber sie erzählt davon nicht mit Stolz. Eher so, als hätte für diese Handlung eine Art innere Notwendigkeit bestanden.

Und während sie sich einen weiteren Joint anzündet, sagt sie: Sie finde selbst nicht, dass sie hier sein sollte. Und sie wünsche sich, es wäre verboten.

Warum das?, frage ich überrascht.

Hör zu, sagt sie. Wir Marokkaner haben alle zwei Stimmen in unseren Köpfen, die sich ständig widersprechen. Von meiner Kultur aus sollte ich nicht hier sein. Aber was lesen wir in der Schule? Französische Literatur. Sie bringen uns bei, so leben zu wollen wie die Menschen in Frankreich, um uns gleichzeitig zu sagen, dass das etwas Schlechtes und Falsches ist. Und so sitze ich hier. Ich sehne mich danach, in diese Bar zu gehen und ich denke gleichzeitig, ich sollte dafür bestraft werden.

Ein unlösbarer Konflikt

Der albanische Vater und die marokkanische Schriftstellerin: Aus beiden spricht die gleiche Zerrissenheit. Der Versuch, zwei Wertesystemen zu genügen, die sich gegenseitig widersprechen – und damit ein Konflikt, der sich nur unterdrücken, aber nie richtig lösen lässt.

Albanien und Marokko sind dabei sehr unterschiedliche Länder. In Marokko spielt der Islam eine große Rolle. In Albanien waren die meisten Menschen, die ich getroffen habe, mehr oder weniger Atheisten oder keiner bestimmten Religion zugehörig. Das dortige traditionelle Wertesystem scheint sich eher aus dem Stammesrecht entwickelt zu haben, das in Albanien Jahrhunderte lang neben (und teilweise über) der Ordnung der jeweiligen Herrschenden galt. In beiden Wertesystemen ist aber das Verhalten der Frauen extrem wichtig für die Stabilität der sozialen Ordnung und ihre Freiheit wird entsprechend eingeschränkt. Etwas, was aus westlicher Sicht ein Unrecht darstellt.

Was passiert jetzt mit den Werten in diesen Ländern?

Beide sind mehr oder weniger freiwillig nach Westen orientiert. Marokko durch die französische Kolonialisierung, die Verbindungen – und wahrscheinlich auch Abhängigkeiten – geschaffen hat, die bis heute bestehen. Albanien, dessen Elite schon vor dem Kommunismus sehr nach Westeuropa orientiert war. Und wo nach dem Ende des Kommunismus die USA einen maßgeblichen Einfluss auf die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung genommen haben. Heute ist Albanien unter den am Meisten geförderten Ländern der deutschen Entwicklungshilfe und das Auswandern die beste berufliche Perspektive für qualifizierte junge Menschen.

Die Dynamik, die sich hier zeigt, ist folgende: Der wirtschaftlich stärkere Westen importiert die Fachkräfte und Ressourcen aus den Ländern am Rande des globalen Wirtschaftssystems. Und exportiert zugleich seine Werte und Kultur.

Die Mechanismen dafür sind vielfältig. Zuerst einmal das, was wir klassischerweise unter Kolonialisierung verstehen, die Unterwerfung und Ausbeutung eines anderen Landes mit militärischen Mitteln. Dann die Einflussnahme durch Geld, Entwicklungshilfe und ausländische Investitionen. Damit Fachkräfte aus solchen Ländern in den Westen kommen, ist es notwendig, dass die westliche Art des Lebens der “eigenen” überlegen erscheint. Und schließlich organisch, dort, wo das “fremde” Wertesystem Lücken des eigenen schließt. Wie bei der albanischen Studentin, die mir einmal freimütig erzählte, sie fahre zweimal im Jahr nach Berlin, um Sex zu haben – sie habe es nämlich satt, dass ihre Familie hier sie sofort zum Heiraten überreden wolle, wenn sie nur einmal mit einem Mann gesehen würde. Kurz: Wirtschaftliche Abhängigkeiten und auch ganz einfach Verbindungen führen auch zu einer Veränderung der Werte.

Kultureller Austausch – oder nicht?

Erzählen lässt sich das eben nicht allein mit dem Begriff des „kulturellen Austausches“. Denn in diesem scheinbaren Austausch herrscht eine Asymmetrie.

Was ich hier sehe, sind Länder, deren kulturelle Werte mir als Deutsche vor dem Reisen kaum bekannt und völlig unverständlich waren. Und die umgekehrt massiv geprägt worden sind von den kulturellen Bildern aus dem Westen. Selbst wenn Menschen aus dem “Westen” in ein Land wie Albanien kommen, dann wird ihre Wahrnehmung der dortigen Kultur in der Regel geprägt von der wirtschaftlichen Asymmetrie. Wenn Menschen als Touristen kommen, dann konsumieren sie Kultur eher als sie zu erleben, durch die Distanz, die durch das Ausgeben von Geld eingehalten werden kann.

Ich habe wieder und wieder digitale Nomaden gesehen, die wochenlang an einem Ort geblieben sind und nachher höchstens Klischees über die Kultur und Werte der Menschen um sie herum wiedergeben konnten. Romantisierungen oder überhebliche Diagnosen von Rückständigkeit, die mehr über die eigenen Ängste und Hoffnungen der Reisenden aussagen als etwas über das Land zu verraten, was sie besucht haben.

Die “zwei Stimmen” im Kopf der marokkanischen Schriftstellerin sind also nicht das Ergebnis eines kulturellen Austausches, bei dem Menschen mit verschiedener Herkunft und Verankerung voneinander lernen und sich gemeinsam weiterentwickeln würden. Sie sind das Ergebnis von asymmetrischen, wirtschaftlichen Strukturen.

Was sich in der Psyche der betroffenen Länder zeigt, ist ein Phänomen, das überall ähnlich ist: Auf der einen Seite eine Orientierung hin zum westlichen Individualismus und zu Werten, die oft nicht in der Tiefe verstanden und gelebt werden und deren Annahme zu großen Teilen eine Widerspiegelung der wirtschaftlichen Strukturen ist und eine Notwendigkeit, die daraus entsteht. Und auf der anderen Seite ein traditionelles Wertesystem, das in Momenten abgelehnt wird, in anderen Momenten in seiner Ablehnung des Neuen erstarrt und als Bollwerk gegen etwas “Aufgezwungenes” eine Inflexibilität bekommt, die den natürlichen Prozess der Weiterentwicklung und Modernisierung dieser Werte unterbricht.

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