Das Wort Trauma ist ursprünglich ein griechisches Wort und bedeutet „Wunde“. Nach der Definition der APA (American Psychological Association) ist Trauma in der heutigen Bedeutung „eine emotionale Reaktion auf ein schreckliches Ereignis wie einen Unfall, eine Vergewaltigung oder eine Naturkatastrophe. Direkt nach dem Ereignis sind Schock und Verleugnung typisch. Langzeitfolgen sind zum Beispiel unvorhersehbare Emotionen, Flashbacks, instabile Beziehungen und sogar physische Symptome wie Kopfweh und Müdigkeit.“
Ein kollektives Trauma liegt dann vor, wenn nicht nur ein Individuum, sondern eine Gruppe oder eine ganze Gesellschaft von Trauma betroffen ist. Solche kollektiven Traumata (auch bezeichnet als „historische Traumata“) sind zum Beispiel der Holocaust in Deutschland oder die Sklaverei in Amerika. Die Epigenetik zeigt, dass unsere Genetik sich durch äußere Einflüsse verändern kann. Trauma kann dadurch auch über viele Generationen hinweg genetisch weitergegeben werden.
Wenn ich mich mit dieser Thematik beschäftige, kann ich mir folgende Fragen stellen: Gibt es untraumatisierte Gesellschaften? Kann es daher untraumatisierte Individuen geben?
Im spirituellen Kontext bezeichnen wir den unbewussten Bereich unseres Traumas auch als Schatten. Wenn wir anerkennen, dass wir in traumatisierte Gesellschaften hineingeboren werden, gibt es so etwas wie einen persönlichen Schatten eigentlich gar nicht. Unser Nervensystem entwickelt sich schon im Mutterleib im Wechselspiel mit anderen Nervensystemen. Folgendes Gedankenexperiment: Stell dir vor, du befändest dich plötzlich in einer utopischen Welt, die komplett heil ist, in der es nur Licht gibt und die auf keine destruktiven Impulse reagiert. Wie lange könntest du deine eigene Destruktivität aufrechterhalten?
Dieser Gedanke macht deutlich, dass jeder Schatten „Investoren“ braucht: Äußere Einflüsse oder Kräfte, die dem Schatten Energie zuführen. In einer Gesellschaft, die sich ihres eigenen Traumas nicht bewusst ist, investieren wir permanent in die inneren Wunden der anderen. Wie der kanadisch-ungarische Mediziner Gabor Maté schreibt: „Wir sind ganz und gar auf Kommunikation ausgelegt und so muss auch Heilung ein soziales Geschehen sein, das einen Wir-Raum braucht.“
Als Individuen können wir bis zu einem bestimmten Punkt heilen. Aber um uns als Menschheit weiterzuentwickeln, müssen wir kollektive Heilungsprozesse beginnen. Wir müssen von einem Ich-Bewusstsein in ein Wir-Bewusstsein kommen.
Auf einer gesellschaftlichen Ebene verursachen Traumata die Illusion von Getrenntheit. Eine traumatisierte Gesellschaft erschwert oder verhindert Verbindung. Sie ist geprägt von einem kollektiven Nicht-Wissen-Wollen. Wenn wir uns zum Beispiel in einem Gespräch dieser unsichtbaren Grenze nähern, kann es sein, dass wir plötzlich müde werden und die Verbindung zu unserem Gesprächspartner verlieren. Häufig versteckt sich unser Nicht-Wissen-Wollen auch hinter einem Scheinwissen, wo wir gelernte Wahrheiten über Politik und Geschichte wiederkäuen, ohne in der Tiefe in ihre Bedeutung hineinzufühlen.
Kollektives Trauma hindert uns daran, unser Eingebundensein in die Geschichte (historisches Bewusstsein) nicht nur mental zu erkennen, sondern auch zu fühlen. Wenn wir nicht in der Lage sind, uns als „Wir“ wahrzunehmen, übernehmen wir keine wirkliche Verantwortung für unseren Einfluss auf das Kollektiv. Wir bleiben unbewusst und wiederholen immer wieder die gleichen Muster. Die Zukunft wird zu einer nach vorne projizierten, traumatischen Vergangenheit – und Geschichte wiederholt sich.
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Quellen: Thomas Hübl: Kollektives Trauma heilen. Verborgene Verletzungen der Seele verstehen und transformieren. Heyne-Verlag, 2023; American Psychological Association: Trauma (https://www.apa.org/topics/trauma/), Stand 11.04.2024.
Zur ersten Übersicht zum Thema: Wikipedia: Collective Trauma (englischer Artikel) https://en.wikipedia.org/wiki/Collective_trauma
