Ich sitze mit meinem Freund, dem mazedonischen Dichter, bei einem späten Abendessen. Er erzählt mir, warum es in Mazedonien kaum Filialen der großen Fastfood-Ketten gibt. “McDonalds zum Beispiel”, sagt er, “die haben versucht, in Skopje einen Laden zu eröffnen. Aber nach wenigen Monaten haben sie wieder aufgegeben.”
“Warum?”, frage ich. “Mochten die Leute das Essen nicht?”
“Doch schon. Aber sie sind zu lange sitzen geblieben. Und vor allem haben sie die Schlange aufgehalten, weil die Leute sich mit den Menschen an der Kasse unterhalten wollten. Die Geschwindigkeit, die McDonalds braucht, um rentabel zu sein, lässt sich in Mazedonien nicht aufrecht erhalten.”
“Wow”, sage ich. They killed McDonalds by being too social.
Diese kleine Geschichte geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Sie ist ein Spiegel für die Funktionsweise unserer modernen, westlichen Gesellschaften. Eine Funktionalität, der sich die Menschen in dieser Geschichte verweigern. Nicht aus bewusstem Protest. Sondern aus einem nicht überwundenen, selbstverständlich ausgelebten sozialen Bedürfnis. Sie nährt in mir einen Verdacht, der seit Monaten immer größer wird: Wir zahlen für unser modernes Streben nach Effizienz einen hohen Preis. Einen Preis, der durch den Prozess des Effizienter Werdens selbst unsichtbar wird, weil er vergessen wird.
Die Verengung der menschlichen Wahrnehmung
Das tiefgründigste Buch, was ich zu diesem Thema bisher gelesen habe, ist “Die Ästhetik des Ungehorsams” von Jan Juhani Steinmann und Albert C. Eibl. Dieses dünne Buch enthält nicht nur eine klare Analyse dieser “Ästhetik der Effizienz”, die eigentlich eine Schönheitsfremde ist, sondern auch die Imagination einer dazu entgegengesetzten Kultur. Hier beschreibt Steinmann auch die kulturelle Umwertung, die dazu führt, dass wir Geschwindigkeit als Wert an sich betrachten:
“Dass in der digitalen Umwertung diese Werte [das Wahre, Schöne, Heilige… Anm.d.V.] lediglich neu besetzt werden, dürfte aber auf der Hand liegen: Anstelle des Wahren tritt das datenbasierte Faktum, anstelle des Schönen das elegant Nützliche, anstelle des Heiligen das Superintelligente, anstelle des Vernünftigen das Effiziente und anstelle des Freien das Automatisierte.”
In all diesen Umwertungen spiegelt sich meines Erachtens nach eine Verengung der menschlichen Perspektive:
- Wo wir das datenbasierte Faktum mit Wahrheit gleichsetzen, vergessen wir, dass “das Sein mehr ist als sich messen lässt und anders als seine algorithmische Verarbeitung”.
- Wenn wir denken, dass das elegant Nützliche schon die ganze Schönheit ist, vergessen wir andere Dimensionen des Schönen: Wir sind nur noch in der Lage, als schön zu empfinden, was wir gebrauchen können. Farben und Ornamente verschwinden aus unseren Lebensumgebungen und wir betrachten sogar menschliche Körper nach einer Verwertungslogik. Schön ist dann nur, was jung und gesund ist, Leistung bringt und nicht von der Norm abweicht. Wir nehmen unsere Körper dann nicht mehr als erstaunliche Quellen von Lebendigkeit wahr, sondern als eine Summe von nach Möglichkeit zu optimierenden Einzelteilen.
- Wo das Superintelligente zum Heiligen wird, ersetzt die Frage an die KI das Suchen nach dem Göttlichen. Wo das Göttliche für uns nie ganz durchdringbar ist, weil es naturgemäß die Grenzen unserer Wahrnehmung übersteigt, gibt ein Algorithmus klare Antworten. Dadurch verringert sich nicht nur das Spektrum des Erfahrbaren, sondern auch die (praktizierte) Selbstverantwortlichkeit in den Annahmen, die unserem Handeln zugrunde liegen.
- Wo das Effiziente das Vernünftige ersetzt, wird Vernunft mit Geschwindigkeit gleichgesetzt. Dadurch erhöht sich unser Lebenstempo und wir vergessen die Frage, wo die ganze angeblich freigewordene Zeit eigentlich hingeht.
- Wenn wir Freiheit nur noch in den Kategorien von Automatisierung denken, dann setzen wir Freiheit mit Befreiung und Grenzenlosigkeit gleich. Wir vergessen dabei, dass wirkliche Freiheit eine Fähigkeit ist, die wir kultivieren und in uns selbst halten und erschaffen müssen – gerade unter unfreien Bedingungen – und nichts, was uns von außen gegeben werden kann.
Kann KI uns ersetzen?
Wenn darüber diskutiert wird, ob die KI den Menschen ersetzen kann, dann denke ich, dass die Antwort eigentlich einfach ist: Künstliche Intelligenz ist der menschlichen überall dort überlegen, wo wir selbst maschinell handeln. Wenn sich jetzt unsere ganze Perspektive auf die Welt (wie oben gezeigt) zu einer maschinellen verengt, dann machen wir genauso unsere Wirklichkeit virtuell ersetzbar.

Im Herstellen des elegant Nützlichen sind Maschinen uns überlegen, weil es sich klar definieren lässt. Mit dem Schönen geht das nicht. Und deshalb sind gerade die unkonkreten Begriffe, die Wort-Felder, die so groß sind, dass wir uns ihnen annähern, aber sie nicht durchdringen können, Ausdruck des Menschlichen.
Online-Sucht und die Verarmung der Wirklichkeit
Die Effizienz, der wir unsere Leben unterwerfen, hängt direkt zusammen mit der Sucht, Zeit durch Konsum von digitalen Inhalten wieder zu verschwenden. Die meisten Menschen, die ich kenne (einschließlich ich selbst) kämpfen dagegen an, sich in der virtuellen Welt zu verlieren. Wir kennen den unwiderstehlichen Drang, das Handy nach Nachrichten zu checken oder den Moment, wenn wir plötzlich merken, dass wir seit einer Stunde durch Instagram scrollen anstatt zu tun, was wir eigentlich tun wollten (und was war das nochmal?). Ich habe oft versucht, mich durch Selbstbeschränkung und Regeln daran zu hindern, aber das allein erfordert viel Energie und funktioniert immer nur vorübergehend. Meine Tendenz, digital zu konsumieren korrespondiert direkt mit der Armut meiner Wirklichkeit. Und die Lösung liegt deshalb nicht allein in der Selbstbeschränkung im Virtuellen, sondern in der ineffizienten, nutzlosen Ausschweifung in der Wirklichkeit.
Wenn wir das Virtuelle als überlegen und kraftvoller wahrnehmen, dann liegt das daran, dass wir die Wirklichkeit jenseits unserer Bildschirme nach den gleichen Kriterien erleben. Wir erkennen den Wert unserer Menschlichkeit nicht mehr, wenn wir uns selbst aus der Perspektive einer Maschine betrachten.
Das Gespräch mit den McDonalds-Mitarbeitern ist aus einer maschinellen Perspektive nutzlos: Es hat keinen klaren Zweck, es gibt darin keine Zielvorstellung, es lässt sich davon kein Foto für Social Media machen. Doch das Wegfallen all dieser Menschlichkeit führt zu innerer Armut, zu Abstumpfung, zu fundamentaler Langeweile. Will das irgendjemand? Willst du das? Freiwillig? Nein? Dann wird es vielleicht Zeit, sich an die Alternativen zu erinnern. Und bewusst Ineffizienz zu praktizieren.
Hier eine Anleitung.
- Die bewusste Weigerung, Zeit zu nutzen. Wenn ich mal wieder den Anschlusszug verpasse und auf einmal eine Stunde in einem unbekannten Bahnhof warten muss, dann ärgere ich mich über den “Zeitverlust”. Oder: Ich genieße ihn, als eine Zeit, die für mich nicht nutzbar ist. Ich widerstehe der Versuchung, so zu tun, als wäre ich beschäftigt, indem ich schnell mal noch ein paar Nachrichten beantworte. Ich setze mich auf den Boden und warte, bis ein Handlungsimpuls kommt, der nicht aus Stress resultiert. Vielleicht kommt auch keiner. Dann sitze ich bloß da und schaue mir dabei zu, wie ich Zeit verliere.
- Das Training der unfokussierten Wahrnehmung. In der virtuellen Welt bin ich darauf gepolt worden, immer auf eine einzige Sache zu fokussieren. Ich verschwinde in meinem Bildschirm und vergesse alles andere. Um mich in der realen Welt wieder zu verankern, ist es empfehlenswert, eine Wahrnehmung über alle Sinne gleichzeitig zu trainieren: Was sehe ich? Was höre ich? Was fühle ich, wie fühlt sich mein Körper gerade an? Was rieche, schmecke ich? Mit ein wenig Training kann ich wieder in einen Zustand kommen, in dem ich durch die einfache und gründliche Wahrnehmung dessen, worüber ich normalerweise “hinwegleben” würde, eine tiefere Lust empfinde als durch virtuelle Reizstimulierung.
- Die künstlerische Sicht auf die Welt. Kunst und Literatur zeichnet sich dadurch aus, dass sie in ihrer Schönheitssuche die Grenzen des “elegant Nützlichen” sprengt. Poesie ist ein Weg, die virtuelle Verengung unserer Schönheitswahrnehmung zu überwinden. Was in meiner Umgebung ist schön, obwohl es nicht nützlich ist? Welche Art von Schönheit ist nicht digital reproduzierbar? (die zerkratzte grüne Holztür im alten Bahnhof, die Unebenheiten in ihrer Oberfläche, dort, wo sie seit vielen Jahren gegen den Rahmen schwingt. Das Vibrieren von Unsicherheit in der Stimme der Bäckereiverkäuferin, die den Gästen sagt, sie müssten jetzt gehen, weil sie schließen will und die deshalb vielleicht ein schlechtes Gewissen hat).
- Sinnloser Smalltalk. Ich führe Gespräche ohne eine klare Zielvorstellung mit Menschen, die mir nicht nützlich sind. Dadurch öffne ich wieder die Tür für Unvorhergesehenes, Chaos und Zufälle und beschränke mich nicht mehr auf das, was der Algorithmus und das Gebot der Effizienz für mich vorgesehen haben.
- Die Zeit der anderen stehlen. Ich brauche die Zeit, die ich brauche. Ich werde nicht hektisch beim Einräumen der Einkäufe im Supermarkt. Ich weigere mich, das Stehlen von Zeit als Kapitalverbrechen zu betrachten. Die Erfahrung mit unserer modernen Wirklichkeit zeigt, dass wir die Zeit, die wir sparen, in Wahrheit sowieso nie zur Verfügung haben: Umso mehr wir uns beeilen, umso weniger Zeit scheinen wir zu haben. Also ist es besser, sich die Zeit überall gleich zu nehmen.
- Der Mut, Fragen offen zu lassen und Dinge nicht zu wissen. Ich widerstehe der Versuchung, jede Frage schnell von ChatGPT beantworten zu lassen, um durch oberflächliches Wissen ein Gefühl von Sicherheit zu erhalten. Ich halte es aus, Dinge nicht zu wissen und lerne, den Zustand der Unwissenheit selbst zu schätzen. Wie Rilke 1903 in einem Brief an Franz Xaver Kappus schreibt: “Sie sind so jung, so vor allem Anfang, und ich möchte Sie, so gut ich es kann, bitten, lieber Herr, Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein.” In die “Antworten hineinzuleben”, wie Rilke schreibt, bedeutet letztendlich nichts Anderes als durch eigene Erfahrung eigene Antworten zu finden, anstatt immer nur Vorgefertigtes zu übernehmen. Das Aushalten von Unwissenheit ist die notwendige Voraussetzung dafür. Autonomie ist das Ergebnis.
- Die Freiheit, sich uneindeutig auszudrücken. Eine virtuelle Intelligenz strebt in ihrem Ausdruck immer nach Klarheit und Verständlichkeit. Das ist ihre Aufgabe. Wenn ich als Mensch das Gleiche tue und jede Unklarheit als Inkompetenz betrachte, neige ich zu Oberflächlichkeit und dem Wiederholen des bereits Gesagten. Die Anwesenheit von Fragen, unfertigen Gedanken und nur intuitiv erschlossenen Bedeutungsräumen sollte in meiner Sprache sichtbar sein. Das macht sie menschlich. Wenn du in meinen Artikeln ab und zu einen Schachtelsatz liest, dann ist das kein Zufall, sondern eine bewusste Herausforderung deiner maschinell geprägten Lesegewohnheiten.
- Kein schlechtes Gewissen bei ungesunden Gewohnheiten. Ich habe Leute sagen gehört: Jede Zigarette reduziert die Lebenszeit um zwanzig Minuten. Na und? Wir verlieren Tage, Wochen, Jahre dadurch, dass wir in unseren eigenen Leben gar nicht anwesend sind, ohne dass sich jemand beschwert. Wenn ich mir diese Zeit mal zurückhole, dann kann ich mir die Zigarette leisten. Ich bin nämlich reich. Und da ich ein Mensch bin und keine Maschine ist meine optimale Leistungs- und Funktionsfähigkeit nicht mein Lebenszweck. “Schlechte” Gewohnheiten, die mir Vergnügen bereiten, kann und sollte ich mir leisten.
Dass wir uns gegen die virtuelle Abstumpfung wehren, ist die vielleicht wichtigste und alltäglichste Aufgabe, die im Moment an unsere Menschlichkeit gestellt wird. Die Voraussetzung dafür ist, dass wir in der realen Welt so reich und tief wie möglich leben (auch beim Kochen oder im Supermarkt) und dass wir die Fähigkeit, mit der Umwelt in Kontakt zu sein, nicht wegrationalisieren. Wir sollten Effizienz als Qualität schätzen, aber sie nicht zum Standard unserer Vernunft erheben. Und wir sollten ihr Gegenteil, die Ineffizienz, als zentrales Element unserer Menschlichkeit verteidigen: Sie ist die Lücke, in der das Wunderbare lebt. Und das Wunderbare wird für Maschinen immer unverständlich bleiben.
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Quellen: Albert C. Eibl, Jan Juhani Steinmann: „Ästhetik des Ungehorsams“. Wieser Verlag GmbH 2024. Kaufen kannst du das Buch hier
Der ganze Brief von Rainer Maria Rilke an Franz Xaver Kappus, 16. Juli 1903 https://www.rilke.de/briefe/160703.htm


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