Gastartikel: Wurzeln und Seele – Der unsichtbare Preis der Emigration

Autorin: Aneta Mihali Xhiku

Aneta Mihali Xhiku begegnete mir zum ersten Mal im Rahmen meiner Romanrecherche in Albanien. Der vorliegende Artikel erschien ursprünglich auf ihrer Facebook-Seite – und machte sie über Nacht im ganzen Land bekannt. Indem Aneta öffentlich über den seelischen Preis der Emigration sprach, brach sie ein Tabu in einer Gesellschaft, in der das Weggehen zum Statussymbol geworden ist. Ihr Artikel vermittelt eine überraschende (und gerade für Menschen aus dem reichen Westen sehr ungewohnte) Perspektive auf die sozialen und kulturellen Aspekte der Emigration in einem Land, von dem alle weg wollen. Hier erscheint er erstmalig in deutscher Übersetzung.

Wurzeln und Seele

Nach zwanzig Jahren der Emigration habe ich vielleicht ein oder zwei Dinge über die Seelenschmerzen gelernt, die durch Entwurzelung und Einsamkeit verursacht werden. Albaner träumen davon, nach Amerika zu ziehen, aber sie haben nicht die geringste Vorstellung von dem emotionalen, gesundheitlichen, familiären, beruflichen und sozialen Tribut, den sie im Tausch gegen den wirtschaftlichen Komfort zahlen müssen. Innerhalb weniger Jahre finden die meisten albanischen Einwanderer eine feste Anstellung, kaufen Autos und Häuser; ihre Kinder besuchen gute Schulen und schaffen es dank ihres Ehrgeizes, geerbt von Eltern, die aus einem Land mit geringen Möglichkeiten geflohen sind, bis an die Spitze. 

Wenn du Albanien als Berufstätiger verlässt, ist es dein Ziel, in den USA mindestens das gleiche Niveau zu erreichen. Aber das erfordert gigantische Anstrengungen, die schnell in Stress ausarten. Endlose Möglichkeiten verlocken die Immigrantin (ich benutze hier die weibliche Form) dazu, immer härter zu arbeiten; sie verschuldet sich, um das Beste zu kaufen, was es gibt, aber das Beste hört nie auf. Schon bald ist sie im Konkurrenzkampf gefangen und vernachlässigt es, ihre Seele zu nähren. Da sie aus einem Land kommt, in dem Nachbarn, Cousins, Kollegen oder Freunde als Therapeuten dienen, findet sie sich in einer Leere wieder – niemand, dem sie ihre Seele ausschütten kann, niemand, der sie wieder auffüllt. Die seelischen Schmerzen verwandeln sich in Stress, der unweigerlich die Muskeln lähmt und den Körper kaputt macht. Die Immigrantin beginnt Medikamente zu nehmen, die eine Sache reparieren und zwei kaputt machen. Und sie rennt weiter, bis sie stolpert und ihr Leben immer dünner und rissiger wird …

Meine elterliche Familie, Wurzeln und Zweige, waren alle in den USA. Aber ich vermisste meine Freunde, sehnte mich nach meiner geliebten albanischen Sprache und nach der Landschaft. Tief in meinem Unterbewusstsein war das Bedürfnis verankert, die Berge, die Hügel, den See und den Fluss zu sehen, aber die schlimmste Sehnsucht war die nach dem Meer. Hast du jemals einen wiederkehrenden Albtraum erlebt?

Hier ist meiner: Ich fuhr für zwei Wochen nach Saranda, voller Vorfreude auf das Meer, aber der letzte Tag brach an, und ich hatte nicht eine einzige Gelegenheit gehabt, ins Wasser zu springen. Vom Balkon meiner Schwester aus konnte ich ein Stückchen Blau sehen, blau, blauuuuu… „Aaaaarh, morgen bin ich weg!“ – Ich wachte verzweifelt auf, die Wangen ganz nass, weil ich in meinem Traum geweint hatte.

Willkommen zuhause: Eine ungewöhnliche Rückkehr

Ich hatte mich entschlossen, in Amerika zu bleiben, aber vielleicht, vielleicht würde ich eines Tages, nach meiner Pensionierung, nach Albanien zurückkehren. Unsere Töchter standen auf eigenen Füßen. Es war die beste Zeit für uns, es ruhig angehen zu lassen und die Früchte der Arbeit in diesem wohlhabenden Land zu genießen, aber wir suchen uns die Karten nicht aus, mit denen wir spielen. Es war mein Mann, der die Entscheidung traf, noch vor der Rente nach Albanien zurückzukehren. Ich folgte ihm nur widerstrebend, war aber von der Energie, den unternehmerischen Möglichkeiten und der Herzlichkeit der Menschen angenehm überrascht. „Willkommen, willkommen zu Hause, wie lange bleibst du?“ „Für immer!“ Die Gesichter zeigen schieres Unglauben, dann erhellen sie sich vor Freude: „Da sie bleibt, muss sie etwas wissen, was wir nicht wissen.“

Sobald die Begeisterung nachlässt, beginnen die neugierigen Fragen, dann die endlosen Beschwerden, und ich spüre die tiefe Verzweiflung der albanischen Gesellschaft. „Es ist vorbei, es gibt keine Hoffnung mehr“ – diesen Refrain höre ich jeden Tag. Möglichkeiten gibt es in Saranda im Überfluss, aber meine untätigen Mitmenschen haben keinen Blick dafür und wiederholen immer wieder: „Dieses Land geht den Bach runter!“ Niemand hält sie davon ab, die Gasse vor ihrem Haus zu säubern, Blumen und Bäume zwischen den hässlichen Häusern zu pflanzen, eine Wand oder eine Treppe zu streichen, die leeren Wohnungen der Nachbarn zu verwalten, den Bauern zu helfen, ihre Produkte in die Stadt zu bringen, einen Chor zu gründen oder einen Ausflug mit den Kindern der Nachbarschaft zu unternehmen, jemandem in Schwierigkeiten zu helfen – aber nein, nein, sie sind zu sehr damit beschäftigt, türkische Seifenopern zu schauen, Selfies auf Facebook zu posten oder unter schweren Rauchwolken Kaffee zu trinken…

Die Kraft einer gesunden Seele

Inzwischen kommen die Ausländer in Scharen nach Saranda. Nachdem sie in ihren Heimatländern alles aufgelöst haben, kaufen oder mieten sie Wohnungen und eröffnen Geschäfte – wir hingegen sind bereit zu gehen, um von hier zu verschwinden, presto! Auf der Flucht zerbrechen die Familien, die Eltern bleiben zurück, die Kinder werden nie von den lieben Großeltern verwöhnt werden, die beruflichen Träume gehen den Bach runter und das Gewebe der Seele nutzt sich ab, Faden für Faden …

Eine aktuelle Studie über die Faktoren, die Langlebigkeit bestimmen, zeigt, dass die Gemeinschaft (das Leben auf der Straße) an erster Stelle steht, an zweiter Stelle die Familie und enge Freunde und erst an siebter Stelle das Rauchen.

Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Einwanderer aufgrund von Einsamkeit stirbt, ist siebenmal höher als die, dass er am Rauchen stirbt.

Hast du schon jemals eine Kampagne gegen Emigration gesehen? Schau dir den Dokumentarfilm „Die Babuschkas von Tschernobyl“ an – nach der Nuklearkatastrophe in Tschernobyl wurden die Bewohner nach Kiew evakuiert. Die radioaktive Todeszone war von Stacheldraht umgeben, aber etwa 100 ältere Frauen kehrten heimlich in ihre Häuser zurück und versuchten, auf dem tödlichen Boden zu überleben. Die Nachricht sprach sich herum, und ein Team ungläubiger Wissenschaftler und Journalisten traf ein, die ihr Leben riskierten, um das Undenkbare zu beobachten und zu untersuchen. Sie kamen zu dem Schluss, dass die Sterblichkeitsrate der älteren Vertriebenen in Kiew weitaus höher war als die der Babuschkas, die in die Todeszone zurückgekehrt waren. Reine Seelenmagie….

Seit meiner Rückkehr sind nun 20 Monate vergangen, und ich bin mir der tiefen Wunden der albanischen Gesellschaft sehr bewusst. Ich weiß, wie schwer es ist, Kinder großzuziehen und einen Beruf zu ergreifen in einem Land, in dem die Regierung nur damit beschäftigt ist, ihre eigenen Taschen zu füllen, mit Politikern, die systematisch Chancen für Menschen zerstören, die Arbeit brauchen und gerne arbeiten. 

Aber die Welt hat sich verändert: Die Einwanderer sind im begehrten Westen nicht mehr willkommen und die Westler selbst finden zuhause keinen Frieden mehr (Shawn und Kyle haben alles, was sie in Kalifornien besaßen, verkauft und bauen in Finiq eine Farm auf; am Samstag werde ich auf Lucy warten, die mit nur zwei Koffern am Hafen ankommt, nachdem sie ihre Wohnung in Washington DC verkauft hat; Natasha verabschiedet sich von ihrer Heimat in Long Island, während in meinem Viertel eine Wohnung für sie bereitsteht). 

Wir haben das Glück, in einem Land mit fantastischem Klima, natürlichen Ressourcen, Lebensmitteln, Geschichte, emotionaler Intelligenz usw. zu leben, das Ausländer im Handumdrehen zum Absprung bewegt. Albanien hat sich in mancher Hinsicht vorwärts und in mancher rückwärts entwickelt, aber dank der Technologie und der sozialen Medien haben wir keine Ausreden mehr, um Zeit zu verlieren. Wenn wir unser Bestes geben, wenn wir die Fähigsten unter uns wertschätzen und sie an die Spitze holen, wenn wir Zivilcourage fördern, um unsere Politiker zur Rechenschaft zu ziehen, dann habe ich das Gefühl, dass die Hoffnung real ist. Ich verbringe meine Tage mit Menschen, die sagen: „Wir können etwas tun“, und als jemand, der beide Seiten gesehen hat – Albanien und die USA – , sage ich: „Ich war dort zufrieden, aber hier bin ich glücklich.“

P.S. (Ich persönlich kenne viele Einwanderer, die meine Meinung nicht teilen und in der Emigration glücklich sind, aber dieser Artikel ist für diejenigen geschrieben, die fühlen wie ich.)

Neugierig geworden? Im Podcast habe ich mit Neta ausführlich über ihren Artikel, ihre Perspektive auf das Thema Emigration und ihre dokumentarische Arbeit gesprochen.

Aneta Mihali Xhiku, genannt Neta, wuchs in Albanien auf und emigrierte 1998 als junge Frau in die USA. Zwei Dekaden später kehrte sie zurück – und verursachte mit ihrem Artikel „Roots and Soul“ eine landesweite Debatte in Albanien. Seitdem arbeitet Neta als Dokumentarfilmerin, Autorin und Motivationsrednerin und konzentriert sich dabei auf gewöhnliche Menschen mit einem außergewöhnlichen Leben. Ihre Filme veröffentlicht sie auf ihrem YouTube-Kanal „Via Neta“.

Du möchtest noch mehr inspirierende Perspektiven?

9 Antworten zu „Gastartikel: Wurzeln und Seele – Der unsichtbare Preis der Emigration”.

  1. Sehr klischeehaft und verallgemeinernd geschrieben. Da schreibt jemand völlig subjektiv und einseitig, so als wären alle Emigranten der Habgier und Karrieresucht unterworfen. Unkritischen Menschen gehen solche dramatisch übersteigerten Berichte zwar unter die Haut, aber der geschulte Leser durchschaut die gewollte Absicht. Du hast wieder mal für einen Roman recherchiert? Da muss ich gleich mal auf der Spiegelbestenliste nachschaun. Mäuschen, wie lange willst du dich noch durchs Leben träumen? Werde endlich erwachsen. Was nützt es, wenn du einmal einen Koffer voller Manuskripte hinterlässt, aber keinen Max Brod als Freund hast?

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    1. Neta hat diesen Artikel nicht geschrieben, um ihre Meinung zum Thema Emigration loszuwerden. Sondern um ihren Mitmenschen in Albanien zu erklären, warum sie aus den USA zurückgekehrt ist. Eine für diese Gesellschaft sehr ungewöhnliche Entscheidung, die endlose Nachfragen verursacht hat. Über ihre Ansichten darf man natürlich diskutieren, aber zuerst einmal lesen wir hier den Text einer Frau, die ihre eigenen Erfahrungen schildert, ihre eigenen Schlussfolgerungen daraus zieht und den Mut hat, sich darin sichtbar zu machen.

      Was ich über deinen Kommentar dazu nicht gerade behaupten kann, Prinz Prospero! Hier lese ich bloß die überhebliche Meinungsschleuder irgendeines Typen, der seine Zeit damit verbringt, satirische Gedichte über das Wildpinkeln und die ach so dumme Welt zu veröffentlichen, andere ungefragt „Mäuschen“ nennt und in dessen Leben – den Reaktionszeiten nach zu urteilen – außerhalb des Bildschirms auch nicht mehr allzu viel stattzufinden scheint. Ist es denn das, was du mit „erwachsen werden“ meinst? Falls ja, dann hast du die Attraktivität dieses Lebensentwurfes noch nicht so ganz überzeugend herausgestellt und ich bleibe mangels Alternativen vorerst lieber bei meinen Manuskripten 😀

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      1. Mir gehts eher um die Sache und nicht um Personen. Aber wenn wir schon dabei sind: Ich schreibe „dunkelromantische Liebesgedichte, die tiefer gehen“, wenn man einem Rezensenten von der Süddeutschen Zeitung Glauben schenken darf. Alles andere ist Geblödel aus Lust und Dollerei. Die Gedichte, auf die es mir ankommt, stehen unter der Rubrik „für dich“. Die grenzwertigen Poems hab ich inzwischen gelöscht. Du wirst also das dich erzürnende Wildpinkelgedicht nicht mehr finden.

        Verzeih, dass ich mich kritisch geäußert habe. Eigentlich wollte ich noch dazu schreiben, dass ja keiner gezwungen wird, sein Land zu verlassen. Mir könnts noch so dreckig gehen, aber meine Heimat würde ich niemals aufgeben. Ja, wenn die Erwartungshaltung zu groß ist und Frau dann ernüchtert ist und einsieht, was sie überhaupt an nichtmateriellen Gütern aufgegeben hat, um in der Ferne etwas zu erreichen, das mit Besitz und Status zu tun hat, dann kommt es zu der Serienfolge: Die Rückkehrer. Vielleicht war ich etwas fies. Ich wünsch dir viel Glück mit deinen Projekten. Leider hast du auch nicht kapiert, dass Künstler die härteste Kritik brauchen, damit sie sich weiter entwickeln. Ich freue mich darüber, dass du deinen Partner gefunden hast. Ihr seid ein sehr schönes Paar. Alles Liebe und Gute von mir ❤

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      2. hehe. Du darfst schon fies sein, wenn ich dann auch fies sein kann. Aber damit scheinst du ja nicht so ein Problem zu haben. Und das „Mäuschen“ ist hiermit gerade so akzeptiert, weil du ein Gedicht als Begründung geschrieben hast. Ich frag mich bloß, ab wann man dem Tod nahe genug ist? Gibt’s da ne offizielle Grenze? Kritik nehm ich dann, wenn ich sie erkennen kann, aber du benutzt ja starke Worte ohne Begründung. Ist es per se eine unrealistische Träumerei, einen Roman zu schreiben? Oder nur in meinem Fall? Wenn ja, wieso? Glückwunsch zur Rezension in der Süddeutschen.

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      3. Vielleicht war ich auch nur etwas angepisst, weil du dich so lange nicht gemeldet hattest – und ich hatte dir – glaub ich – auch damals schon nochmal einen Kommentar hinterlassen. Vielleicht hat mich dies so aggressiv werden lassen. Ich weiß es nicht. Mann ist ja oft selbst nicht der Herr im eigenen Haus. Mir wärs damals wichtig gewesen, mit dir in Verbindung zu bleiben. Aber dann warst du weg. Ich hätt auch gern zu dir gesagt: „Du kannst jetzt nicht gehen!“, wie du es zu deinem damals potentiellen Freund gesagt hast. Ich weiß nochmal nicht, warum, aber ich hab was in deinem Wesen erkannt, das sehr selten ist. „Mäuschen“ war selbstverständlich überheblich, das geb ich zu, aber auch verniedlichend gemeint. Kennst du den Begriff des „Poète Maudit“? Poe war so einer, der sich mit allen überwarf. Ich glaub, der Ausdruck gehört auch zu mir. Ich überwerf mich früher oder später mit allen. Kennst du das auch?

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      4. Sorry, hab jetzt erst gesehen, dass du eine Therapie anbietest und das Honorar einer promovierten Psychologin verlangst. Bei der abstrusen und unwissenschaftlichen Theorie muss man noch Angst haben, dass du keinen Exorzismus durchziehst. Nach meinem jetzigen Stand der Dinge kann ich leider gar nichts mehr mit dir anfangen und ärger mich über mich selbst, dass ich auf dich reingefallen bin. Werde deinem Blog nicht mehr folgen. Wir wollen hier soziale Kontakte knüpfen und nicht abgezockt werden. Warum hab ich das nicht gleich gesehen. Hast du gut versteckt 🙂

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      5. Jetzt ist aber mal gut. Du schwankst hier von Kommentar zu Kommentar zwischen Zuneigung und Verurteilung und ziehst einen interessanten Schluss nach dem anderen über mich. Auch ohne dir einen Exorzismus andrehen zu wollen würde ich mich definitiv auch in Zukunft aller möglichen Übel schuldig machen, fürchte ich 😉 Ich glaube, das ist eine Intensität von Beziehung, die ins reale Leben gehört und nicht in die Kommentarspalten eines Blogs. Da ist es vielleicht wirklich besser, du richtest diese Intensität woanders hin, damit bin ich einverstanden. Trotzdem danke für deine Kommentare, die waren wenigstens immer unvorhersehbar und haben mir deshalb Freude gemacht. Ich wünsch dir alles Gute.

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      6. Na gut, also nicht in die Kommentare. Ich muss dich also anrufen und mit dir stundenlang über uns reden. Auch gut ..

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  2. Altersfreiheit

    In einem Alter bin ich,
    da darf ich jede jüngere Frau
    „Mäuschen“ ungestraft nennen.

    Das ist die Gnade des nahenden Todes.

    ©PP

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